In der Tradition von Theoretikern wie Max Bill oder Max Bense beschäftigten sich Studierende der Fachhochschule Dortmund im Rahmen des Seminars „Kriterien der Fotografie“von Marcel René Marburger damit, Kriterien zur Analyse fotografischer Arbeiten aufzustellen. Als work in progress enthält der Katalog bis dato 89 im Seminar entwickelte Kriterien. Die hier gezeigte Fassung des Kriterienkatalogs entstand durch die Beschäftigung mit Theoretikern wie Vilém Flusser, Susan Sontag oder Victor Burgin, resultiert aber ebenso aus theoretischen und praktischen Erfahrungen der Studierenden mit dem Medium Fotografie sowie aus der Analyse ausgewählter Fotografien.
In der hier im cahiers abgebildeten Form erhebt der Katalog keineswegs den Anspruch auf Richtigkeit oder gar Vollständigkeit: Sowohl die Kriterienfindung als auch ihre kurzen Erklärungen sind im Sinne eines Kriteriums aus dem Katalog „fluid“, d.h. sie sind noch im Fluss und als Gesprächsangebot zu begreifen – Kritik und dialogische Mitarbeit sind absolut erwünscht und erbeten.
A-Historisch Geschehenes aus dem zeitlichen Ablauf bzw. aus dem „Hier und Jetzt“ reißen und damit zeitlos werden lassen. Abhängigkeit Maß der Abhängigkeit vom Auftraggeber oder anderen Umständen. Abstraktion Fotografiertes Sujet oder Thema sind im Abbild nicht mehr klar erkennbar. Aktualität Das Gezeigte betrifft in besonderer Weise den gegenwärtig stattfindenen Diskurs bzw. das Zeitgeschehen. Analog Auf analoge Weise hergestellt. Aneignung Bewusste Nachahmung bereits existierender Bilder auf formaler oder inhaltlicher Ebene. Animierend Bildinhalte, die zu einer bestimmten Handlung, Empfindung oder einem Gedanken anregen. Archivarisch Bestandsaufnahme mit dem Ziel der wissenschaftlichen Erfassung. Auflösung Im Sinne einer Verfremdung; analog wie digital. Bildauflösung Grad der Auflösung, in Pixel und Punkten. Dekonstruiert Auf Bildebene die Auflösung einer offensichtlichen Ordnung. Digital Auf digitale Weise hergestellt. Dokumentarisch Mittels Fotografien wird ein Sachverhalt dargestellt; Bemühen um Objektivität. Essayistisch Mittels Fotografien wird eine Geschichte von einem subjektiven Standpunkt aus erzählt. Evolutiondes Sehens In Anlehnung an Dziga Vertov (u.a.) der Versuch mittels fotografischer Arbeiten die Entwicklung eines Neuen Sehens zu befördern; Anpassung der Menschen an die „schnelllebige“ Moderne; ausgehend von der Überlegung, dass bildgenerierende Apparate bei adäquater Verwendung eine vollständig neue Art der Welterfahrung ermöglichen und neuartige Realitäten hervorbringen. Exemplarisch Das einzelne Bild steht für unzählige andere Bilder ähnlichen Inhalts, z.B. Bilder von Katzen. Fame Der Bekanntheitsgrad der Fotografin/des Fotografen hat Einfluss auf die Rezeption des Bildes. Farbe Farbige Fotografien; realere Anmutung; aktuell. Feministisch Das Bild soll zum Genderdiskurs beitragen. Fixiert Bilder sind statisch, eine Veränderung ist nicht mehr möglich. Fluid Bilder in steter Veränderung, bzw. eine solche ist möglich. Format Welches Format ist verwendet worden. Gegen den Apparat Den Apparat in einer Weise verwenden, die von seinen Erbauern nicht vorgesehen ist; künstlerisch; experimentell. Gelenkter Zufall Die zufällige Aufnahme entsteht in einem dafür konstruierten Rahmen. Grad der Authentizität Ein hoher Grad der Authentizität setzt einen möglichst geringen Eingriff des Fotografen / der Fotografin voraus. Grad der Referentialität Bei der Herstellung der Fotografie wurde der Rezipient bereits mitgedacht; Das Bild wurde für eine bestimmte Person hergestellt und ist erst einmal auch nur für diese von Interesse, z.B. Familienfotos. Graphisch Erkennbares Verhältnis von Linien und Flächen. Humor Bildinhalte, die Komik erzeugen. Idealisierung Abweichung der Darstellung von der Realität mit dem Ziel zu gefallen (sich oder anderen). Idee-Bild-Schere Grad der Abweichung von Absicht und Ergebnis; nicht immer im fertigen Bild erkennbar. Ideologisch Aufnahmen, die ideologisch motiviert sind oder eine ideologische Wirkung entfalten; zeit- und kontextabhängig. Ikonisch Aus nicht planbaren Umständen heraus wird eine Fotografie zur Verkörperung eines zeitgeschichtlichen Ereignisses. Ikonografisch Der Bildinhalt steht in einer erkennbaren Bildtradition. Informativ / Innovativ Fotografische Arbeiten, die formal und/oder inhaltlich neue Informationen bereitstellen. Inszeniert Das zu Fotografierende ist bewusst arrangiert, um eine bestimmte Wirkung zu erzeugen. Inszenierung des fertigen Bildes Wie wird das fertige Bild gezeigt? In welchem Zusammenhang? Mit welcher Rahmung? In welcher Form? Kitsch Der Bildinhalt ist redundant und ästhetisch veraltet oder gewöhnlich. Komposition Grad der ästhetischen Gestaltung eines Bildes, absichtlich oder unabsichtlich. Konservativ Fotografische Arbeiten, die formal und / oder inhaltlich traditionell sind. Konstruierter Zufall Die zufällige Aufnahme entsteht in einem dafür konstruierten Rahmen. Konsum Bildinhalte, die zum Konsum anregen (offensichtlich oder subtil). Kontext Unter welchen Bedingungen ist das Bild entstanden? Welche Bezüge stellt es her? Wo wird es gezeigt? Konzeptuell Der fotografischen Arbeit liegt ein erkennbares künstlerisches Konzept zu Grunde. Künstlerisch Fotografien, die eine formale und / oder ästhetische Konzeption erkennen lassen. Lichtwirkung Gezielte Verwendung von natürlichem oder künstlichem Licht, mit der Absicht die Bildwirkung zu verändern. Manipulationder Bildwerdung Nachbearbeitung des Bildes durch Retusche oder Bildbearbeitungsprogramme. Manipulation der Bildwerdung durch Dritte Z.B. Fotobombing oder der „Image-Fulgurator“ von Julius von Bismarck Manipulation des Darstellenden Arrangements des Settings, der zu fotografierenden Sache oder Person vor dem Betätigen des Auslösers. Marktkonformität Fotografische Arbeiten, die darauf angelegt sind, auf dem (Kunst-) Markt zu reüssieren; die Ursachen des Erfolgs sind zeit- und situationsabhängig. Metaphorisch Das Dargestellte steht für etwas anderes; der metaphorische Verweis ist absichtsvoll und entschlüsselbar. Mit dem Apparat Dem industriell vorgegebenen Apparatprogramm Folge leisten; konform mit der Bedienungsanleitung. Montage Überlagerung verschiedener Bilder bzw. Schriften. Moralisierend Das Bild soll ein bestimmtes Denken oder ethisches Handeln hervorrufen. Motiv / -ation Welche Motivation führte zu dem gewählten Motiv. Objektiv Fotografische Arbeiten, die möglichst wenig inszeniert sind und keine Autorschaft erkennen lassen. Politisch Aufnahmen, die politisch motiviert sind oder eine politische Wirkung entfalten; zeit- und kontextabhängig. Post-Historisch Historische Ereignisse finden statt, um fotografiert zu werden. Prestige Die Bildinhalte fördern das Ansehen des Dargestellten oder des Darstellenden und wurden mit dieser Absicht hergestellt. Progressiv Fotografische Arbeiten, die antiautoritär und / oder untraditionell sind. Psychologische Wirkung Das Gezeigte entfaltet eine ungewöhnlich starke Wirkung, diese kann bewusst oder unbewusst wahrgenommen werden. Raumwahrnehmung Veränderte Raumwahrnehmung; anderes Sehen, z.B. Fischauge. Recycling / Kontextverschiebung Bewusstes Aufgreifen bereits existierender Bildinhalte mit der absichtlichen und / oder sichtbaren Überführung in einen anderen Kontext, z.B. Found Footage. Redundant Fotografische Arbeiten, die weder formal noch inhaltlich neue Informationen bereitstellen. Reflexiv Die Reflexion bezüglich der eigenen Arbeit oder des verwendeten Mediums. Repräsentativ Im Sinne Althussers Bilder, die einen Konsens herstellen, um die Umstände zu erhalten oder zu stärken. Dies kann bewusst oder unbewusst geschehen. Seriell Fotografische Arbeiten, die als Serie angelegt sind und nur als solche ein Konzept erkennen lassen. Schwarz-Weiß Abgesehen von Schwarz, Weiß und Grautönen farblos. Sichtbarmachung Die Sichtbarmachung von etwas, das dem Blick ansonsten entgangen wäre, z.B. Detailfotografie. Skandal / Provokation / Irritation Der Bildinhalt bildet keinen Skandal ab, sondern provoziert oder irritiert selbst. Sozialer Zwang Fotografieren müssen; Selfies; Fotos in Sozialen Netzwerken; Bilderflut. Standpunkt (Räumlich) Aus welcher Perspektive wurde das Foto gemacht? Stil-Generierend Form und/oder Inhalt erzeugen oder fördern einen Stil. Symbolisch Das auf der Fotografie Sichtbare verweist in Teilen oder im Ganzen auf etwas anderes. Symptomatisch Zwischen Fotografiertem und dem auf der Fotografie Sichtbaren besteht ein kausales Verhältnis von Ursache und Wirkung. Synästhetisch Die visuelle Rezeption der Fotografie generiert nicht-visuelle Sinneseindrücke, z.B. das duftende Brötchen in der Werbung wird gerochen. Technische Bedingungen Maß der Abhängigkeit von der Technik. Text-Bild-Schere Grad der Abweichung zwischen Text- und Bildbotschaft. Überlagerung/Durchdringung Doppelbelichtung oder Spiegelung. Übertragungsfehler z.B. JPG-Artefakte oder defekte Dateien. Unschärfe Bewusst erzeugte oder unwillentlich auftretende Unschärfe. Unsichtbar Die in der Fotografie weder auf formaler noch inhaltlicher Ebene sichtbaren Einflüße. Unverständlich Nicht eindeutig kodiert bzw. widersprüchlich. Verweis auf etwas Nicht-Sichtbares Das Dargestellte verweist auf etwas anderes, ohne dass diese Beziehung eindeutig kodiert ist; das, worauf verwiesen wird, ist in der Regel nicht abbildbar, z.B. Glaube. Visuelle Kodierung Der Bildinhalt ist eindeutig kodiert und entschlüsselbar. Vor-Bildlich Bilder, die einen Hype erzeugen bzw. häufig nachfotografiert werden. Vor-Historisch Das Foto generiert historische Ereignisse, die ohne seine Existenz nicht stattgefunden hätten. Voyeuristisch Die Fotografie zeigt eine oder mehrere Personen in einer möglicherweise kompromittierenden Art und Weise, Rezipient wird zum Voyeur. Voyeuristisch / Persönlich Die Fotografierten werden mit ihrem Einverständniss in einer intimen Art und Weise dargestellt. Wissenschaftlich Eine Bildgenerierung mit dem Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis oder Dokumentation – etwa Röntgen-, Astro- oder Infrarot-Fotografie; . Zufall Bilder, die gänzlich zufällig entstehen, z.B. eine unwillentliche Handy-Aufnahme in der Hosentasche.
do|ku|men|ta|risch [dokumɛn‘ta:rɪʃ] Mittels Fotografien wird ein Sachverhalt dargestellt; Bemühen um Objektivität
Kriterium Nr. 10
Seminarteilnehmer Kriterien der Fotografie SoSe16: Kristine Arnold, Marc Botschen, Pascal Dreier, André Fister, Alexander Hügel, Johann Husser, Annelot Meines, Philipp Robien, Alex Telieps