In seinem Text aus dem Jahre 1998 diagnostiziert Timm Starl scharfsichtig die Krise der damaligen Ausstellungspraxis. Ernüchtert ist festzustellen, dass seine ironischen Weisungen nach wie vor befolgt zu werden scheinen.
Bevor ich mich über die Monotonie von Fotoausstellungen auslasse und skizziere, wie das Publikum von diesen erfolgreich ferngehalten wird, erlauben Sie mir einige vorbeugende Richtigstellungen, damit niemand etwas in den falschen Hals bekommt.
1) Alles ist Übertreibung, von der ich ausgiebig Gebrauch machen werde, damit jeder von Ihnen auf Distanz gehen kann, weil nur aus dieser bestimmte Erscheinungen auszumachen sind.
2) Alles, was ich anmerke, gilt kaum für Institutionen in Deutschland, erst recht nicht für jene in Österreich, und niemals für solche, deren Vertreter heute anwesend sind.
3) Alles, wovon die Rede ist, behandelt ein Randgebiet des Kunstbetriebes, nämlich die Fotografie, deren Expositionen für diesen ebensowenig typisch sind wie die Provinz für die Metropole oder die Peripherie für das Zentrum.
Zu deren Wirklichkeiten – um endlich zum Anfang zu kommen – gehört auch die Präsenz des Mediums in der Öffentlichkeit, ein Teil davon – um endlich zum Thema zu kommen – ist die Präsentation in Museen und Galerien. Nun müsste man eigentlich Unterscheidungen treffen, denn die einen wollen – ich verkürze sehr – informieren, weil sie Stadt, Land oder Bund dazu verpflichten, die anderen wollen verkaufen, weil der Geschäftssinn der Inhaber danach steht. Beide erwähnten Einrichtungen richten sich an teilweise das gleiche Publikum, z. B. Sammler, teilweise an ein anderes, z. B. Schulklassen. Selbstverständlich wird auch der Erfolg anders gemessen, hier – wieder in aller Kürze – an den Besucher-, dort an den Umsatzzahlen.
Es wäre ein Leichtes, weitere Unterschiede anzuführen, was mehr und mehr zu der Annahme führen könnte, dass auch das öffentliche Auftreten entsprechend different sein müsste. Doch dem ist nicht so, ganz im Gegenteil: Ausstellungen und Kataloge, Pressemitteilungen und Einladungen gleichen sich auf seltsame Weise, insbesondere was ihre Form angeht und nicht zuletzt ihre Wirkung anlangt. Das Ziel von Fotoausstellungen lässt sich aus der Praxis ohne weiteres ablesen, liegt es doch darin, dass möglichst viele Besucher zur Eröffnung kommen und möglichst wenige in den Wochen danach.
Dies wird erreicht, indem
1) die Hängung größtmögliche Langeweile erzeugt,
2) so wenig als möglich über die Fotokünstler zu erfahren ist und
3) auf keinen Fall deren Bildwelt in Bezug gesetzt wird zu einer früheren oder einer heutigen.
Entsprechend steht am Beginn einer Fotoausstellung ein kurzer Lebenslauf, der ein Wesen vorstellt, das ausschließlich fotografiert, wenn es nicht Ausstellungen beschickt oder Sammlungen bereichert; dass aber – könnte man meinen – nicht isst und trinkt, keine Zeitgenossen kennt, die ebenfalls als Lichtbildner tätig sind, nur heiratet, wenn der Partner prominent ist, niemals Veranstaltungen besucht usw. usf. Wir bekommen es mit jemandem zu tun, der keinerlei Verbindung zu der Zeit hat oder hatte, in der er lebt oder lebte, eine freischwebende Person, nur himmelwärts zu betrachten, wie alles, was nicht auf dem Boden des Alltags steht.
Diese weniger belichtete als beleuchtete, aber umso strahlendere Figur ist der Schöpfer jener Werke, die anschließend im Halbdunkel von 70, 50 oder weniger Lux, jedenfalls aber in Reih und Glied vorgeführt werden. Damit die Bilder sich möglichst wenig unterscheiden bzw. die Unterschiede nicht allzu deutlich hervortreten, sind die Abzüge mit Passepartouts umgeben, die zudem verbergen, wie groß die Abzüge geraten sind. Diese meist in spannendem Ecrue/Chamois oder aufregendem Weiß gehaltenen und gelegentlich mit Schrägschnitt ausgestatteten Zugaben werden in gleich großen, auf alle Fälle jedoch in gleich aussehenden und aus gleichem Material angefertigten Rahmen fixiert. Millimetergenau ist der Zwischenraum zwischen den Rahmen bemessen, und auch das Arrangement an der Wand richtet sich nach einem uniformen Maß: Der Abstand vom Boden zum Zentrum eines jeden Bildes entspricht der durchschnittlichen Körpergröße von Behördenvertretern, Journalisten, Kulturinteressierten, Kollegen und wer sonst noch die Räume solcher Häuser frequentiert. Es ist allerdings nicht exakt die Augenhöhe des fiktiven Betrachters, sondern ein wenig darunter, damit der Blick der meisten leicht gesenkt werden muss und von oben herab auf die Kunst gesehen wird.
Das sich folglich einstellende Gefühl der Erhabenheit verzichtet gerne auf nähere Auskünfte und begnügt sich mit der spärlichen Bildlegende, die da lautet:
1) der Titel – meist markant in fetten Lettern dargeboten, wobei er nicht allzu sprechend sein soll, weswegen häufig unter ein Bildnis „Porträt“ oder unter die Aufnahme eines entkleideten Menschen „Akt“ geschrieben wird. Auch ist möglichst nicht kenntlich gemacht, ob die Titel von den Bildautoren oder vom Kurator gewählt wurden, denn dies würde nur Fragen aufwerfen nach einem Warum und Wieso.
2) die Datierung, die ebenfalls nicht exakt sein muss und ohne weiteres große Zeiträume umfassen darf, z. B. „vor 1980“, was ja die ganze Spanne bis zur Erfindung der Fotografie umfasst, wenn man nicht die Lebensdaten des Fotografen bzw. der Fotografin im Kopf hat und weiß, wann er oder sie begonnen hat zu fotografieren und und und.
3) und zuletzt prangt der Leihgeber auf dem Täfelchen, gerne kursiv gesetzt, immer jedoch ein wenig abgehoben, gelegentlich noch mit einem blumigen Stereotyp kenntlich gemacht, das lautet: „Mit freundlicher Genehmigung von…“
Dieserart Inszenierung verhindert nachdrücklich, dass eine nähere Beschäftigung mit den Bildern stattfindet. Denn bei der Vernissage wird ohnehin den ausgestellten Werken meist der Rücken zugedreht bzw. erlaubt die Schar jener, die sehen wollen, wer da ist, sowieso nur hastige Blicke auf den einen oder anderen zufälligen Ausschnitt. Und bei der Einöde der restlichen Tage, an denen geöffnet ist, verführt die Gleichförmigkeit der Hängung nach dem Prinzip der militärischen Ausrichtung den Besucher zu wenig mehr als einem entsprechenden Abschreiten. Man könnte sagen: die Formation steht entschieden gegen die In-Formation! Und sie verhindert auch wirkungsvoll ein Erinnern, denn wer behält schon ein einzelnes Gesicht im Gedächtnis, wenn hundert gleich Uniformierte vorbeimarschiert sind.
Nun könnte man einwenden, dass die Ausstellungen ja zumeist von Katalogen begleitet werden, die ein anderes Medium darstellen und bestimmte Aufgaben der Vermittlung zu übernehmen hätten. Es zeichnet aber die Kuratorinnen und Kuratoren von heute aus, dass es ihnen gelingt, jeden Wechsel der Ansicht wirkungsvoll zu verhindern, indem sie die Aufbereitung des Bild- und Datenmaterials in Ausstellungen und den dazugehörigen Publikationen immer ähnlicher gestalten. Ja, mehr noch: Damit ein Minimum an Fakten zum Publikum gelangt, sind die biografischen Abrisse oftmals ident, werden – wenn überhaupt – nicht nur Äußerungen der Künstler, sondern auch Auslassungen von Katalogautoren aus der Begleitpublikation auf die Ausstellungsflächen übernommen. Ebenso bestehen die Einführungsreden der Kuratoren im besten Fall aus Auszügen aus dem von ihnen verfassten Katalogtext, wobei jene Passagen Bevorzugung erfahren, in denen Walter Benjamin oder Roland Barthes zitiert werden, und zwar möglichst die bekannten und tiefgründigen Sentenzen zur „Aura“ und zum „Es ist gewesen“. Nicht zuletzt besteht der Pressetext aus einer Kurzfassung der Einleitung, wodurch auch die Rezensenten über das Vorhaben weitestgehend im Unklaren gelassen werden und ihre Bequemlichkeit jene Unterstützung erfährt, die gewährleistet, dass sich viele Besprechungen höchstens in den Satzstellungen und -zeichen unterscheiden.
Der Tafelteil des Kataloges wiederum besteht in einer der Ausstellung ähnlichen Aneinanderreihung von Bildern, oftmals einer lediglich kürzeren Fassung von dieser. Allerdings wird streng darauf geachtet, dass nicht allzuviel Variabilität den Blick ermuntert. Die Wiedergaben sind seitenfüllend, weshalb Querformate immer kleiner reproduziert werden als Hochformate (im Fernsehen ist dies übrigens umgekehrt – nebenbei bemerkt). Die Bildunterschriften sind mit jenen der Ausstellung identisch, keinesfalls werden die Maße der originalen Abzüge angegeben, weil dies die Phantasie des Betrachters allzusehr strapazieren würde. Insgesamt regiert das hehre Motto der Sprachlosigkeit: „Ein Bild sagt mehr als tausend Worte!“ Damit die Intentionen der Bildautoren weitestgehend im Dunkeln bleiben, werden Farbaufnahmen – soweit machbar – in Schwarzweiß wiedergegeben, ohne diese Tatsache zu erwähnen (außer im vertraulichen Gespräch, bei dem über die geringen Mittel, die hohen Klischeekosten, die Knausrigkeit der ministeriellen Stellen oder Sponsoren lamentiert wird).
Worauf die Kuratoren und Herausgeber dieser Veröffentlichungen besonderen Wert legen, sind die Gegenüberstellungen der Bilder auf einer Doppelseite. Dabei wird nach den ästhetischen Dispositionen der gestaltenden Verantwortlichen vorgegangen, weil damit auf elegante Weise frühere Zusammenhänge im Schaffen der Fotografin oder des Fotografen oder auch ehemalige Darstellungsweisen in Fachjournalen usw. verborgen bleiben können. Auch insofern wird die Analogie zur Ausstellung gewahrt, wo nach denselben Maßgaben verfahren wird. Als schaustellernde Meisterleistung gilt allerdings, wenn das Einerlei durchbrochen wird und zwei Bilder übereinander oder gar ein Viererblock auf einer Seite oder einer Wand plaziert werden.
Nun möchte man meinen, dass Entkontextualisierung, ständiges Zitieren, assoziative Bezugnahme, das Hinter-sich-lassen von Geschichte durchaus eine Erscheinung postmodernistischen Gepräges abgeben. Man könnte auch darauf verweisen, dass die Gleichförmigkeit ein probates Mittel ist, das Kunstwerk zum Verschwinden zu bringen, aber Jochen Gerz hat etwas anderes gemeint, als er befand: „Kunst ist gut, wenn man an ihr vorbeigehen kann, ohne dass man sie sehen muß.“ Denn er dachte an die Bilder, die im Kopf entstehen; die entstehen, indem ein Kunstwerk verformt, verworfen, verändert, also zumindest partiell zerstört und neu kreiert wird. Das Betrachten von Kunst, von Fotografie ist – nach wie vor – ein aktiver, kreativer, manipulativer, kein konsumtiver Akt, auch wenn die mediale Entwicklung auf andere Prioritäten setzt.
Den gerade erhobenen Zeigefinger will ich aber rasch wieder senken, denn ich habe gehört, dass auch in anderen Künsten der Gedanke der einheitlichen Verpackung aufgegriffen wird. So verspricht sich manch ein Galerist erhöhtes Interesse, wenn alle ausgestellten Gemälde mit derselben Leichtmetallleiste gerahmt werden, und ein Museum soll ihre sämtlichen Skulpturen auf gleich große und gleich hohe und gleichfarbige Kunststoffpodeste stellen. Aber das halte ich für ein Gerücht! Oder weiß jemand Näheres?
Vortrag anlässlich der basistage Salzburg am 19.4.1998 im Rupertinum.