Von September 2012 bis Januar 2013 zeigte die Kunstsammlung NRW im K20 in Düsseldorf eine umfangreiche Ausstellung der 1963 in Birmingham geborenen Künstlerin, die u. a. 1997 den renommierten Turner-Prize gewann. Der Kuratorin Doris Krystof ist damit sicher eine der interessanteren Ausstellungen des Jahres 2012 gelungen. Eine Rezension.
… oder wem sonst? Was erwartet man, wenn man in eine Fotoausstellung geht, die schlicht den Künstlernamen als Titel trägt und mit einem Portrait wirbt, das gleichzeitig schrill und konventionell wirkt? Eigentlich müsste man schon dadurch vorgewarnt sein, dass es um mehr gehen muss als die Aneinanderreihung von Menschenbildnissen. Das Aufmacherbild, bei dem erkennbar eine Maske über ein Mädchengesicht gelegt ist, deutet eine unkaschierte, vielschichtige Überblendung von Vorstellungen, Bildformen und ja, wenn man so will, auch Theorien der Abbildhaftigkeit von Fotografien an. Aber vielleicht der Reihe nach:
Die englische Fotografin und Künstlerin Gillian Wearing ist in der internationalen Szene kein Newcomer. Die 48-jährige gewann 1997 den renommierten Turner-Prize mit einer 60-minütigen Videoperformance, in der 26 Freunde in britischen Polizeiuniformen eine Stunde lang für ein Gruppenfoto schweigend ausharren sollten. Die Protagonisten machen aber ständig winzige Bewegungen, so dass sich mit der Zeit jegliche Disziplin auflöst. Das erlösende Ende stellt sich mit einem kollektiven Schrei ein, der den Betrachter fast überfällt. Diese Arbeit ist auch in der Düsseldorfer Überblicksausstellung im K20 zu sehen, neben einer Reihe anderer Videoarbeiten, bei denen nicht mehr klar zu differenzieren ist, wo das Spiel anfängt, Inszenierung und wahre Erlebnisse ineinander greifen. Entstanden ist diese erste große Einzelausstellung in Kooperation mit der Londoner Whitechapel Gallery, und sie wird im Anschluss in der Pinakothek der Moderne in München zu sehen sein.
Sucht man einen Zugang zum Verständnis des Werkes der Künstlerin, dann sollte man der Idee der Kuratorin Doris Krystof folgen. Sie arbeitet in der Kunstsammlung NRW zu Aspekten der Bildrhetorik, Formen der Theatralität und Fragen der Darstellung in Film und Video. Krystof eröffnet die Rauminszenierung mit der mehrteiligen Arbeit „Signs that say what you want them to say and not Signs that say what someone else wants you to say“ – eine Portraitserie aus den Jahren 1992/93. Man muss es eigentlich zwei oder dreimal lesen, bis man erfasst hat, was wohl mit dieser Aussage gefordert ist. „I‘m happy“, sagt oder besser schreibt dann eine Frau, ein junger Banker notiert: „I‘m desperate.“, oder ein Polizist verfasst eine Notiz mit der Nachricht: „Help!“ Und glauben wir das? Ist es das, was man als wirkliche Botschaft an die Welt senden möchte? Etwas, das dringend einmal gesagt werden musste? Zwar ist der jeweilige Text gebunden an eine bestimmte Stimmung und an einen spezifischen Moment, aber genau darin unterscheiden sich diese schriftlichen Zeugnisse gar nicht so sehr von den wie im Vorbeigehen entstandenen Portraits.
Ja, ja, richtig. Wir haben es alle schon wirklich oft gehört: Der Vergleich von Fotografie und Schrift, dem Aufzeichnen und dem Zeugnisablegen, der in dieser Arbeit direkt auf der Bildfläche erscheint, macht die Verschränkung von Bild und Subtext offensichtlich und damit diese Serie zu einer echten Ouvertüre der Ausstellung. Auch in anderen Arbeiten geht Gillian Wearing der Relation von Schein und Realität nach. Die erste Bildserie der Ausstellung ist in ihrer Einfachheit so vielschichtig, dass sich hier Muster ablesen lassen, die auch für die darauf folgende Betrachtung von späteren Werken relevant sind. Man muss sich nämlich immer wieder fragen: Wen sehe ich und was sehe ich noch?
Das trifft nicht allein auf die verschiedenen Videoinstallationen zu, in denen Protagonisten mit Masken vor dem Gesicht und fremden Stimmen von Exzessen und Traumata erzählen, sondern auch bei den Performances, die an therapeutische Rollenspiele erinnern und bei jenen Videos, in denen Lebensbeichten regelrecht aufgeführt werden. Ganz essentiell drängt sich diese Nachfrage bei den großformatigen klassischen Portraitarbeiten auf, die laut Titel immer „Me“, also die Künstlerin selber, im Bildgewand eines Anderen zeigen.
Die Serie „Album“ eröffnet sie 2003 mit „Self-Portrait as my Mother Jean Gregory“, die sie mit weiteren Selbstbildnissen als ihr Vater, Onkel, Bruder, Großvater und sich selbst als Jugendliche und Kleinkind unter der Verwendung von Silikonmasken, Ganzkörpermasken und den entsprechenden Familienbildern in Szene setzt. „Ich schau Dir in die Augen, Kleines!“ soll bei Humphrey Borgart so viel heißen wie: „Ich verstehe Dich, kann Dich lesen, ohne große Worte.“ In der Düsseldorfer Ausstellung ist man aufgrund der niedrigen Hängung auf Augenhöhe mit Gillian und daneben mit der ganzen Familie Wearing. Und wenn man in ihre Augen schaut, dann sieht man, anders als in dem schönen Filmklassiker, nichts anderes als Abstand und Distanz, räumlich wie zeitlich. Der räumliche Abstand manifestiert sich beim ersten Hinsehen genau an dem Spalt, der sich zwischen der Silikonmaske und dem dahinter verborgenen Gesicht abzeichnet. Und zwar nur dort. Ansonsten funktioniert das Maskenspiel einwandfrei. Aber es ist unheimlich, und das leise Lächeln, das den Mund der uns unbekannten Frau aus den 1960er Jahren umspielt, wirkt dadurch unecht und gestellt. Man traut ihr nicht, sondern rechnet fast damit, dass sie die Maske abnimmt und ihr wahres Gesicht präsentiert.
Aber wie ist das noch mal, wenn man in einem ausgeleuchteten Fotostudio sitzt und freundlich in die Kamera gucken soll? Ist das nicht genauso? Man nimmt eine Pose ein. Barthes sagt dazu, man imitiere sich vor dem Kameraauge ständig selbst. Bei Gillian Wearing geht es weit über diesen Punkt hinaus. In diesen Nachbildern der Mutter oder des Vaters geht es neben dem Aspekt der Aufführung vor der Kamera auch um das Psychologische des Portraits, um die Verwirklichung von Vorbildern, um Ideale, um Ähnlichkeiten, um Mimesis, für welches das Medium Fotografie per se steht und die man nur mit entsprechender Entfernung erkennen kann.
Der Museumsbesucher hat diese Distanz zum Objekt. Ihm sind die Menschen auf dem Bild fremd und durch die Art und Weise, wie die Fotografie präsentiert ist, auch zeitlich entrückt. Betont wird der Unterschied zwischen dem Hier und Jetzt in der Ausstellung, dem Gezeigten und der fotografischen Vorlage durch die farbigen Bildrahmen, die zeittypisch gefasst sind. Ein System, welches Wearing auch in der darauf folgenden Serie: „Me as …“ ab 2008 anwendet. Auch hier sprechen die Rahmen eine Sprache aus einer anderen Zeit, geben sich zu erkennen als Relikte der 30er, 60er, 70er oder 80er Jahre. Man erkennt sie sofort, die großen Selbstportraits von Diane Arbus, Robert Mapplethorpe, Andy Warhol, Claude Cahun. Weniger vertraut ist das Bildnis von August Sander. Mit dieser Serie stellt sich die britische Künstlerin in die Tradition dieser Fotografen, für die das Portrait nicht allein eine Darstellung eines Menschen war, sondern ein Sujet zur Erkundung von gesellschaftlichen Verhältnissen, eine Möglichkeit, um Tabubrüche sichtbar zu machen und Grenzen zu erforschen. In der Art und Weise, wie Gillian Wearing in die fotografierten Körper schlüpft, ihre Position einnimmt und von innen praktisch neu interpretiert, neu fotografisch auflegt, stellt sie gleichzeitig sich selbst zur Disposition. Es geht um Fragen der Vorbilder; es geht um die Überprüfung von manifestierten Positionen und deren Geltungsanspruch, und es geht immer wieder um Traditionen, die sie in ihr Werk einbindet und unterläuft.
So ist eben auch hier in allen Portraits der Abstand in Zeit und Raum sichtbar, die Maske unserer Tage, der echte Körper der Künstlerin, ihre Freiheiten zu kombinieren, wenn sie beispielsweise gleich zwei Bildikonen Warhols zu einem Einzelbild in der eigenen Person zusammenfasst. Die referentiellen Ebenen im Werk Gillian Wearings, die man vielleicht mit Wiederaufführung bezeichnen könnte, treten hier in den Vordergrund, sind aber auch in ihren Blumenstillleben zu erkennen, dem Dürer-Videobild und vor allem in ihren filmischen Arbeiten. Verlässt man sich auf die Kuratorin Krystof, dann sieht man diesen Impuls zur körperlichen Aneignung direkt zu Beginn der Ausstellung, in der nachgetanzten Sequenz im Einkaufszentrum. Aber es ist in dem Sinne keine konzeptuelle Appropriation Art – bei Gillian Wearing geht es eher um ein Austarieren des eigenen Rollenverständnisses, um Abgrenzung, aber auch um die Sichtbarmachung von Abgründen, die tiefer liegen als die Kamera blicken kann.