Ausgelöst von dem gescheiterten Versuch, während eines Frankreichaufenthaltes den ‚Pont du Gard‘ zu besichtigen, philosophiert Ralf Bohn in kühnen Wendungen über Fotografie als Balance von Phantasie und Erinnerung, über Wahrnehmungsgegenstände und über die Psychoanalyse der Dinge – garniert mit französischer Küche.
Zwischen Nîmes und Avignon steht der Pont du Gard, ein alter römischer Viadukt, der später auch als Straßenbrücke genutzt wurde. Das elegante Bauwerk aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert, welches das Flüsschen Gardon überbrückt, kennt wohl jeder, der auch nur in die Nähe des französischen Südens gelangt ist. Man erzählt, dass selbst Touristen aus China, die in vier Tagen ganz Frankreich bereisen, nicht widerstehen können, diesem UNESCO-Weltkulturerbe eine halbe Stunde ihrer Zeit abzutrotzen. Ich selbst habe im jugendlichen Alter und in sommerlicher Hitze einmal das Vergnügen gehabt, im Rinnsal des Flusses zu baden, das selbst bei geringer Körpergröße oft nicht über Bauchnabelhöhe reicht. Bevor ich meinen Lobgesang weiter über die landschaftliche Schönheit dieser an mediterranen Früchten reichen Region ergieße, darf ich erklären, dass mein Artikel keine Tourismusofferte für eine Nation sein soll, die derzeit knapp bei Kasse ist, sondern dass mir der neuerliche Besuch des Pont du Gard auf denkwürdige Weise zu einem Verständnis von Lichtbildkunst verhalf, das mitzuteilen ich hier die Kühnheit habe.
Bewaffnet mit mindestens drei Fotoapparaten (die Handys nicht mitgezählt), haben meine Freundin und ich nämlich eines frischen Märzmorgens beschlossen, einen Ausflug nach Uzès zu unternehmen (der Samstagsmarkt des mittelalterlichen Städtchens ist sehr zu empfehlen!) und anschließend dem Pont du Gard einen Besuch abzustatten – im Wissen, dass um diese Jahreszeit noch nicht einmal der sprichwörtliche chinesische Tourist den Weg dorthin unternimmt.
Wenn man von der Nordseite kommt, empfängt einen eine gut ausgebaute Straße, die mindestens zwei Kilometer vor dem Erreichen des Ziels schleusenartig jegliche Parkmöglichkeiten behindert, bis man dann an eine Schranke vor einem gigantischen Parkplatz gelangt, die einen auffordert, 18 Euro zu bezahlen, um des Viadukts angesichtig zu werden. Bei dieser Gelegenheit kann man ein „Nationalmuseum“ besuchen, Muscheln mit Fritten essen und Nippes erstehen. Was in meiner Jugend als öffentlicher, unbezahlter Raum jeder Besichtigung freistand, schließt jetzt fotografische Annäherung aus. Die Unverschämtheit dieser absperrenden Wegelagerei, die uns vom nationalen Kulturgut abweist und zugleich ein Nationalmuseum empfiehlt – selbstverständlich mit allen für die Region typischen Fotografien ausgestattet – ist für einen prinzipientreuen deutschen Professor eine Beleidigung: „Kein Geld, kein Foto“, sagte ich zu meiner Freundin. Selbst die Kölner zeigen ihren Dom (auch ein UNESCO-Weltkulturerbe) ohne Eintrittsgeld. Der Louvre in Paris verlangt derzeit 12 Euro, der Eiffelturm deren 5, sofern man den Aufstieg zu Fuß unternimmt und sich mit der zweiten Etage begnügt (mit dem Lift bis zur gleichen Höhe kostet der Spaß 9 Euro, bis zum Gipfel indes 15,50). Dass es selbstredend einige tausend Fotografien und Panoramen des Viadukts im Internet zu sehen gibt, konnte weder unseren Ärger besänftigen (dies übernahm später der regionale Wein relativ gut und kostengünstig), noch Spekulationen verhindern, ob möglicherweise bald jedes Welterbe nur noch gegen Zahlung fotografiert werden kann. Immerhin gibt es die Möglichkeit, einige Kilometer Fußmarsch auf sich zu nehmen, um sich ein Foto zu erschleichen. Ansonsten: Tausche Fotoapparat gegen Mountainbike – das ginge aber zu Lasten des Fotos. Reiches Frankreich, armes Frankreich: Musst du deine öffentliche Landschaft amputieren, um noch aus den abgetrennten Gliedern Kapital zu schlagen?
Wie stets in solch depressiven Situationen erinnerten wir uns eines logischen Auswegs: „Dann versuchen wir es eben auf der anderen Seite des Flusses!“ Wie auch Erstklässler wissen, verbindet jede Brücke zwei Seiten, und wir beschlossen die touristische List anzuwenden und vier Kilometer südlich über die kleine Brücke bei Remoulins den Gard zu überqueren und von Südwesten aus unseren Wagen in die Nähe des Monuments vorzutreiben. Allerdings glich diese Seite der anderen auf’s Haar: Schwere Holzpfähle hinderten über Kilometer hinweg das Parken am Straßenrand, bis uns das schleusenartige Monster erneut vor eine Schranke führte, deren Öffnung gleichfalls 18 Euro veranschlagte und dann erst das Monument zur Besichtigung freigab. Ödipus kann sich vor der Sphinx nicht ratloser gefühlt haben als wir. Die Geldgier der Kulturpatrone hat über das Begehren nach Fotografie und der visuellen Inbesitznahme des Weltkulturerbes gesiegt.
Wir beschlossen den Rückzug. Eine Stunde später traten wir in stillem Gebet im Papstpalast von Avignon ein, dessen privat betriebener Eintritt sein Geld (11 Euro) wert ist, zumal wir um diese Jahreszeit und eine Stunde vor Schließung zu den ganz wenigen Besuchern zählten. Der Palast, der wirklich sehr leer ist (er ist ruinös leer: Es sind nur Räume ohne Interieur zu besichtigen! Also nichts zu verhökern, Monsieur le Président!), befriedigte unser fotografisches Begehren außerordentlich. Allerdings wird man hier vor dem Ausgang durch ein bonbonfarbenes Nippesgeschäft gedrängt, das von der Ritterrüstung aus Plastik bis zur Schneekugel mit Heiligenschein nichts auslässt, um den Touristen daran zu erinnern, dass auch Papstpaläste nicht von göttlichen Fügungen zusammengehalten werden.
Jetzt das Fazit der Erkundung französischer Nationalheiligtümer und zum Kern des fotografischen Problems: Erstens, die Einnahmen des Landes werden zu fast 8% aus dem Tourismus finanziert (und dann erst durch Käse, Wein und Oliven). Zweitens, wer sich dem Begehren nach Fotografie überlässt, muss blechen. Drittens, wer nicht blecht, ist auf denkwürdige Weise – und das war die eigentliche Erkenntnis der Exkursion – auf das Vorstellungsvermögen angewiesen. Das lässt den Umkehrschluss zu, dass die Fotografie eigentlich einer Abwehr des Anteils der Phantasie an der Vorstellungskraft Vorschub leistet, und zwar zugunsten jenes Anteils, der in der Vorstellung als Erinnerung identifiziert wird.
Beim gemächlichen Gang durch die Hallen des Papstpalasts stellte ich dazu weitere Überlegungen an. Wir können davon ausgehen, dass das Erinnerungsbild mit dem eigentlichen Wahrnehmungsbild nie identisch ist. Denn, der „eigentliche Wahrnehmungsgegenstand“ ist ein Produkt der Phantasie oder des Mythos, wie im Falle des Pont du Gard. „Vorstellung“ ist also ein mentaler Zustand, nicht „innere Visualisierung“: Der Wunsch nach Fotografie, also die Balance von Phantasie und Erinnerung wird demnach in der Fotografie zugunsten der Visualisierung, nicht zugunsten der Idealisierung entschieden. Nicht die visuelle Vorstellung, sondern der mentale Zustand der Balance macht das eigentliche Erinnerungsgeschehen aus. Erinnerung ist demnach ein Vollzug, kein Bild. Das heißt nun weiter, so meine Überlegungen, dass erst die Fotografie (respektive das produzierte Bild) die Unterscheidung zwischen Phantasie und Erinnerungsbild zu verifizieren ermöglicht. Bildlichkeit trennt und verbindet zugleich: Sie ist eine Membran mit selektiver Durchlässigkeit. Aber auf diesen Membrancharakter hat es die Fotografie nur im Ausnahmefall (etwa der „konkreten Fotografie“, Fotogrammen etc.) abgesehen. Es gibt bezüglich der Relation Phantasievollzug/Erinnerungsbild weder eine Zweck-Mittel- noch eine Ursprungs-Folge-Relation. Das ihnen Gemeinsame ist Bildlichkeit, nämlich die Präsenz einer Präsentation, die nicht einfach situative Wahrnehmung ist. Der Vorgang der Präsenzpräsentation hat einen wesentlichen Mangel: den der Zeitlichkeit. Oder kann einer sagen, wie lange Präsenz (Gegenwärtigkeit) dauert? Für die Bilder der Fotografie – weil sie in ihrem abbildenden Wesen eine Simulation des physikalischen Wahrnehmungsbildes als Erinnerung nahelegen – gilt: sie erschaffen den Gegenstand, den sie abbilden als Abbildung. Sie bilden nichts einfach nur ab. Man frage also danach, wie sich Phantasien fotografieren lassen. Oder, in Bezug auf den Pont du Gard: wie kann man etwas visualisieren, das man nicht sehen kann? – Man muss es beschreiben, also sich mit Vollzugsformen begnügen.
Worin liegt dann das Begehren, gar der physiologische Reflex, bei jeder Gelegenheit die Kamera zu zücken und sich die Trennung von Bild und Gegenstand so zu vergegenwärtigen, dass man die Wahrnehmungssimulation zu Ungunsten der Phantasie präferiert? Nun gut: Wenn es kein Begehren gibt zu wissen, gibt es auch kein Begehren zu fotografieren. Vielmehr ist beides eine Idealisierung der Einheit einer Differenz: Beim Wissen geht es um die Identität von Begriff und Sache, bei der Fotografie um die wechselseitige Identifizierung von Bild und Ding – die Wiederholbarkeit der Wahrnehmung, die Rettung von Präsenz. Präsenz, das weiß die Philosophie seit Kant, ist Einbildungskraft, und Einbildungskraft ist das, was die innere Zeitlichkeit des Menschen ausmacht. Das heißt aber nun, dass es sich sowohl beim Wissen-Wollen wie beim Fotografieren-Wollen darum handelt, das Begehren in der Schwebe zu lassen, also den schmalen Sprung von Präsenz und Vollzug zu überbrücken, sodass im blitzartigen Augenblick der Identifizierung die Wahrnehmung selbst aussetzt (wenn der Spiegel der Reflexkamera nach oben klappt und den Sucher für den Moment der Belichtung schwarz werden lässt). In dieser Aussetzung setzt die Unterscheidung selbst aus. Das macht nun den Charakter der Identität oder Identifizierung aus: Etwas wird mit etwas anderem als identisch erklärt. Dass Identität stets nur negativ (schwarz) aufscheint, ist einsichtig. Aber dieses Negative der Identität ist das, was wir „Vorstellung“ nennen und was wir physiologisch nur als einen Zustand des Menschen beschreiben können, der nicht sichtbar ist. Alles was nicht sichtbar ist, müssen wir konstruieren – von den Vorstellungsbildern bis zu den Dingen und Brücken etc.
Nun war, um wieder auf unseren Ausgangspunkt zu kommen, der Pont du Gard für uns nicht sichtbar und das Ereignis seiner Präsenz folglich eine Lücke oder ein Abgrund. Und jetzt wird es spannend: Genau diesen Abgrund überbrückt nämlich eine Brücke. Und so fragte ich meine Freundin leise (denn im Papstpalast geziemt sich Lautstärke nicht): „Wo ist die Lücke hin?“ Die Frage war rein rhetorisch, denn ich erteilte mir im Verlaufe des Abends die Antwort gleich selbst. Allmählich zeigte sich mir der kulturell hochstehende Vernunftgrad der doppelseitigen Pont-du-Gard-Fotografier-Verhinderungsmaschine als eine Offenbarung: Die Maschine dient dazu, zu zeigen, dass das Vorstellungsvermögen oder die Phantasie sich der Ökonomisierung entzieht, wenn nicht Medienmaschinen (Viadukte oder Kameras) uns weismachen, wir könnten mit dem Opfer geringster Absenzen die Identität mit nach Hause nehmen und in Alben oder Büchern wiederbeleben. Man frage aber doch einmal einen der fotografierenden Ignoranten (z.B. den, der mit seiner Leica das dreimillionste Foto vom Eingang des Papstpalastes macht), was er sich vorstelle, wenn er in diesem Moment das Foto mache. Stellt er sich als dieser fotografierende Ignorant vor? Nein, denn er ist in diesem Moment genauso eine leichte, transparente, bogenhaft gespannte Maschine wie der Viadukt. Der Fotograf macht sich im Moment des Fotografierens unsichtbar. Er hat die Funktion einer Brücke angenommen, die die Differenz der Ufer einander näher bringt und zugleich auf Distanz hält. Denn auch mit einer Leica kann man den Papstpalast nicht wirklich mit nach Hause nehmen (Google Earth und andere Bilddienste können das hingegen schon dreidimensional simuliert.) Das Problem, ob sich auch Gnade und Heiligkeit leica-like teletransportieren lassen, hat die Kurie übrigens mit „ja“ beantwortet, als in den sechziger Jahren der Ostersegen via Fernsehen in die Haushalte strahlte. Merke: Das einzig wirkliche Hypermedium ist der Glaube, denn er überwindet nicht nur Räume, sondern auch alle Zeiten.
An dieser Stelle und schon im Abendverkehr Richtung Sète, wo ein Restaurationsbetrieb darauf wartete, uns die Früchte des Meeres zu servieren, tischte ich meiner Freundin noch vor Aperitif und Salat den nächsten Teil meiner Überlegungen zum Pont du Gard und der Fotografiermaschine auf (die französische Küche ist übrigens offiziell „immaterielles Weltkulturerbe“ – und häufig ihren Preis wert.). Meine Freundin war so charmant, das Ungelenke meiner Ausführungen nicht zu korrigieren, obwohl sie nicht viel mitbekommen haben dürfte, da am Nebentisch die Sitzung der örtlichen Sozialistischen Partei vorrevolutionäre Lautstärke erreicht hatte, unter der sogar das Schlürfen der Austern (Vorsicht, Gelbsuchtgefahr!) unerhört blieb. Ich sagte also, dass bezüglich der Brückenfunktion eine Psychoanalyse der Sachen den Dingen auf den Grund gehen könne, und zwar, weil es Dinge gibt, und deshalb menschliches Begehren, das über die unmittelbarsten Bedürfnisse hinausgeht. Dieses Begehren ist eben nun immer das der Identifizierung oder der Identität.
Auf menschliche Beziehungen hin rückgebildet, hat die Brücke (und auch die Fotografie als Brücke der Zeit) folgende Funktion: Die Brücke symbolisiert die patriarchale Vaterposition als Ursprung und somit die Aufhebung der Differenz (der Abständigkeit der Ufer). Als Vater will man(n) die matriarchalische Mutter (den Fluss, den Abgrund) überbrücken, also wieder fugenlos (Identität!) über Natur herrschen. Denn für Vaterschaft ist immer entscheidend, ob der Erzeuger nach Ablauf von neun Monaten sicher ist, tatsächlich der Erzeuger des Kindes zu sein und das auch bezeugen zu können. Die Verwandtschaft von „Zeuge“ und „Erzeuger“ ist nicht zufällig. Das Ursprungsproblem ist unerachtet des Geschlechts fundamental an das Begehren nach Autorschaft der Produktion ausgerichtet. In der Regel werden Vaterschaftszweifel durch Namensgebung behoben. Das Kind wird zum Besitz und der Sache, über die der Vater verfügt. Es geht hier also um Bestimmung von Bedeutung, also der Begriffsvariante von Fotografie. Die abgründige Mutter kann vom Vater aus durch normative gesellschaftliche Maßnahmen vor Fehltritten bewahrt werden. Z.B. versichert man sich des gegenseitigen Vertrauens durch Eheschließung und normiert so das, was erlaubt ist und was nicht. Soweit also hier schon die Übersetzung von „Sachen“ und „Menschen“.
Nun hat es dingliche Vermittlung immer schon gegeben, seit es Menschen gibt. Ich stehe vor der Brücke nämlich als Abkömmling, als Sohn, der den (zeitlich) ursprünglichen Vater als räumliche Distanz wahrnimmt. Denn die Brücke war ja schon da, und also auch ein Vater (Baumeister etc.). Zur Inbesitznahme des (mütterlichen) Flusses muss ich die Distanz erneut in den Griff bekommen. Ich verdingliche sie mittels Überschreitung. Das Überschreiten bestätigt den Namen des Vaters, also die Konsumationsmöglichkeit der Brücke durch Gebrauch (oder: des Pont du Gard durch das Fotografieren). Allerdings ist die Produktion einer Brücke an eine Mutterschaft gebunden, d.h., ich benötige einen Opferstoff (Rohstoffe, Arbeit etc.). Tatsächlich werde ich nach Überschreitung auf der anderen Seite nicht den ursprünglichen Vater finden; einerseits aufgrund der Verwandlung von Zeit in Raum (man denke an die Erinnerungsfunktion der Fotografie), andererseits aufgrund des Opfers des Übergangs (irgendwer, wenn nicht die Römer, muss die Brücke ja gebaut haben, aber von ihnen fehlt jede Spur). Bezüglich der Dinge bin ich also selten Vater, sondern meistens Sohn. Ich gebrauche die Brücke, ich stelle sie nicht her – und teile auch nicht etwa wie Moses das Rote Meer. Psychoanalytisch handelt es sich um eine homosexuelle Nutzung, d.h., das Mutterproblem wird nur verschoben (und zwar um 90 Grad, quer zum Fluss, als Brücke) und nicht aufgehoben (wie bei Moses), auch wenn die Brücke sich erhaben über den Strom spannt. Die eigentliche Pointe folgt. Wenn man als Sohn zum Vater über die Mutter geht, benutzt man die Brücke als Tochter (auch hier das Zeitproblem als Raumproblem, sozusagen geschwisterlich gedacht). Die Tochter ist damit quasi das Opfer dieser Baumaßnahme, das disziplinierbare Weibliche der Mutter. Denn wie wir wissen, ist der Aquädukt eine Wasserleitung, in der stetig auch ein klarer Fluss an Frischwasser (oder ein anderer Verkehr – auch hier die Doppeldeutigkeit) die antike Stadt Nîmes erreicht hat. Wir haben also auch den Fluss nur um 90 Grad gedreht und diszipliniert.
Nun sperrt sich die Pont-du-Gard-Fotografier-Verhinderungsmaschine wiederum dagegen, dass aus der kleinen Tochter ein weiterer Abgrund gemacht wird, denn die geschickte Bogenkonstruktion sorgt dafür, dass man ungehindert den Viadukt an den Ufern durchschreiten kann. Man braucht also nicht erneut eine Brücke, um die Brücke zu überbrücken (wie die Autobahnbrücken in Los Angeles). Damit aber die Patriarchalgenealogie aufrecht erhalten werden kann (also der Fluss nicht über die Ufer tritt, der Viadukt nicht einstürzt, die Sozialistische Partei nicht tatsächlich eine Revolution anzettelt), muss der Sohn unentwegt Brückenwache schieben. Und diese Brückenwache der Vater-/Sohn-Genealogie, der Bewahrung des Gedächtnisses der Dinge, besorgen die fotografierenden Ignoranten, die mit 18 Euro Eintrittsgebühr über den Pont du Gard schlendern und alle Welt via Google mit Fotos versorgen: Fotos, die übrigens ganz und gar „unproduktiv“ homosexuell sind. Ihre Reproduktion ist bei Strafe verboten, obwohl ihre Digitalisierung Ursprung, Anfang und Original abgeschafft hat, die Fotomaschine tatsächlich zu einem töchterlichen Bilderstrom angewachsen ist, den jedermann kostenlos sich anzueignen befähigt sieht. Wäre ja schön, wenn die Brückenwacht und -maut zur Erhaltung des maroden Denkmals und nicht zur Erhaltung marodierender Verwaltung eingesetzt würde. Leider erfährt man davon vor der Schranke nichts: Dem Brücken-TÜV würde man ja gerne einen kleinen Salär überlassen, wenn einsichtig gemacht würde, dass die Brückenwacht nichts anderes darstellt, als der Präsenz Dauer zu verschaffen – was natürlich ein paradoxes Unterfangen ist. Ein Augenblick dauert ja auch nicht ewig – und Ewigkeit wird nicht in hundertstel Sekunden gemessen.
Was soll also diese ganze Tourismus-Politik, die die Objekte noch im patriarchalen Original zu sehen wünscht, insgeheim aber sich vom touristischen Flussgeschäft der Mutter mitreißen lässt (solange man liquide ist und die 18 Euro bezahlt)? Solange man gegen den konsumativen Fluss keinen Damm baut, kriecht man zu Kreuze vor den Patriarchen des Geschäfts: aber wir lassen uns ja gerne opfern für ein winziges Stück Ewigkeit.
Dieser geizige Gedanke leitete für uns den Nachtisch ein (während der Garçon mit einem dezenten „Plopp“ die nächste Flasche entkorkte und das Karamell flambierte). Der Witz der ganzen Überlegungen, so teilte ich jetzt meiner Freundin mit, mündet nämlich in eine Aussage über jede Kultur des Fortschritts. Der Pont du Gard ist nicht deswegen interessant, weil man auf ihm bequem die Seiten wechseln und in den Fluss spucken kann, sondern weil die Lage es erlaubt, ihn auch von der Seite, unten vom Fluss aus, aus der Perspektive der Mutter zu betrachten. Steht man nämlich auf dem Viadukt, wird er in seiner Konstruktion unsichtbar. Auf diese Weise wechselt der geschulte Tourist zwischen Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit hin und her, das heißt, er nimmt die oszillierende Funktion einer Bildmembran wahr, in der das Bild zugunsten des Sujets verschwindet und umgekehrt, und in der also Homosexualitätsabwehr zugleich heterosexuelles Begehren attrahiert (übrigens beiderlei Geschlechts, denn der Fotografierende ist sich selbst ein Neutrum, eine Sache geworden). Erst über diese mannigfachen Differenzierungen erfolgt die Identifizierung.
Damit sind wir bei den Menschen, die sich selbst erkennen. Ich plädiere also (jetzt schon beim Absacker – ein Limoncello bietet sich an) für eine wechselweise Betrachtung von Dingen und Menschen zur Einebnung der psychophysischen Differenz und für Fotografie ohne Foto: Jedes Foto, das man nicht macht, regt die Phantasie an. Dinge, die man sich vorstellt, beginnen sich von ihrer Konsumstarre zu lösen und werden wieder produktiv nutzbar. So kann das Departement des Gard mit seiner mehr als zweitausendjährigen Kulturtradition dem germanischen Touristen klar machen, dass es auf die Fotos ankommt, die man unter vielen Opfern nicht gemacht hat. Das ist doch 18 Euro wert, oder?