Klaus Honnef spricht auf inspirierende Weise vom Lernen des Sehens, die Bedeutung fotografischer Zentralperspektive und seine kulturell bedingte Konstruktion, das Sichtbare und nicht Sichtbare, die Theatralisierung der Wirklichkeit und die Bedeutung der Suggestivkraft digitaler Wiedergabetechniken.
Johann Joachim Winckelmann, der Ästhetiktheoretiker, in dessen Augen die griechische Klassik jene viel zitierte „edle Einfalt und stille Größe“ verkörperte, soll die Vorhänge seines Reisewagens zugezogen haben, während er die Alpen überquerte. Er hatte keinen Blick für die Schönheit der Berge. Dennoch waren sie nicht Gegenstand ästhetischer Aufmerksamkeit.
Die Bauern im Umfeld der Montaigne de Sainte-Victoire, behauptete ihr Landsmann Paul Cézanne, hätten das Gebirge nahe Aix en Provence nie gesehen – das zentrale Motiv seiner Landschaftsgemälde.
Sowohl der klassische Archäologe als auch die südfranzösischen Landbewohner ließen sich in ihrem Verhältnis zu den jeweiligen landschaftlichen Gegebenheiten von anderen als ästhetischen Interessen leiten. Der eine empfand die Überquerung der Alpen mutmaßlich als Strapaze, bei der er nicht zuschauen wollte. Den anderen war das karge Gebirgsmassiv eher arbeitsträchtige Plage als Auslöser einer besonderen visuellen Erfahrung. Für landwirtschaftliche Zwecke weitgehend unbrauchbar, war es in ihren Augen dementsprechend nutzlos.
Offenbar sehen wir nicht zwangsläufig, was uns in die Augen fallen müsste. Jedenfalls nicht, wenn uns kein besonderer Impuls von außen ereilt, den Focus unserer Aufmerksamkeit darauf auszurichten, den Blick sozusagen scharf zu stellen. Die Dinge sind fraglos da. Aber ohne Justierung existieren sie nicht in unserem optischen Register. Manches sehen wir, verarbeiten es und dennoch gelangt es nicht in unser Bewusstsein.
Was dem einen oder anderen voraus ist – die Frage ist nicht weniger müßig als die Frage, ob das Huhn oder das Ei am Anfang stehen. In jedem Falle füllen sich die Konturen der Dinge, die tatsächlich, doch eben visuell nicht vorhanden sind, in dem Maße, wie sie gesehen werden. Und in dem Maße, wie die Intensität des Wahrnehmungsvollzugs wächst, treten auch Zug um Zug die vielfältigen Binnenstrukturen hervor, die ebenfalls stets vorhanden waren, auch wenn sie zuvor nie wahrgenommen wurden. Nicht von ungefähr äußern sich die seismografischen Erschütterungen der Verfassung des Realen in der Bildkunst vorzüglich durch die Form, durch das Wie und nicht das Was der Darstellung.
Gerade darin besteht ja das entscheidend Neue, das die Fotografie gegenüber der Malerei – mit Ausnahme vielleicht der Feinmalerei – auszeichnet. Es ist der überwältigende, unüberschaubare und zugleich unvermeidliche Detailreichtum fotografischer Bilder, der faszinierte. Ein Detailreichtum, dem kein Ordnungsprinzip aus den Konventionen der Malerei Struktur verleiht. Eine schier überschießende Genauigkeit, in der sich der Blick verliert, ist Alleinstellungsmerkmal des fotografischen Bildes. Jede Einzelheit im Bild ist gleichermaßen von Bedeutung, und mit ihrem anti-hierarchischen Prinzip inspirierte die Fotografie, wie Aaron Scharf1Aaron Scharf, Art and Photography, Harmondsworth 1968ausführlich dargestellt hat, sogar die Malerei.
In der Binnenlogik des fotografischen Bildes hat alles seinen festen Platz. Anders als das gemalte Bild ist das fotografische jedoch nicht das Resultat eines prozessualen Aktes, sondern, mit Ausnahme der Langzeitbelichtung, das Resultat eines plötzlichen Zugriffs. Das fotografische Bild entsteht – hier trifft das Tätigkeitswort einmal zu – in einem Augenblick. Plötzlich. Nicht nach und nach. Mit dem Auslösen der Kamera ist der gesamte Bildausschnitt erfasst und das Bild festgehalten.
Nichtsdestotrotz folgt das strukturelle Design des fotografischen Bildes den lange Zeit vorherrschenden Darstellungsmodi der europäisch-abendländischen Malerei. Der Beginn der Neuzeit findet den symbolischen Ausdruck in dem Bestreben der Renaissance-Malerei, sukzessive den überfließenden Reichtum der sichtbaren Realität an Details, die allmählich dank zahlreicher sozialer und kultureller Verschiebungen ins Blickfeld der Menschen trat, in einem logischen System plausibel zu gliedern und zu ordnen.
Dabei unterscheidet man zwischen zwei angewandten Darstellungsschemata. Das eine ist vornehmlich additiv und flächenbetont und beruht auf einer ausgeprägt empirischen Beobachtungsgabe, das andere entfaltet sich in räumlicher Verkürzung und basiert auf einer vorwiegend handlungsakzentuierten Sicht. Die Fotografie verbindet den additiven Realismus der nordischen Kunst mit der exemplarischen Wiedergabeform der Kunst des Südens. Sie überführte das zunächst intuitiv gehandhabte Instrument der multifokalen Perspektive der Maler des Nordens in den monofokalen, mathematisch begründeten, rationalen Modus der südlichen Maler.
In der Fotografie bestimmt dank der physikalischen Eigenschaften der Kameraoptik das südliche Darstellungsmuster die konstruktive Seite. Wohingegen die Genauigkeit der Aufzeichnung sozusagen das nordische Erbe seiner Abbildungsleistung ist.
Es ist dieses Modell einer perspektivischen und faktengesättigten Wiedergabe des Bildsujets, dass die Fotografie und die europäisch-abendländische Bildnerei verbindet und von den mittelalterlichen, vor allem aber auch von allen bekannten außereuropäischen Bildtraditionen trennt. Gleichwohl hat sich dieses Modell, mit dessen Hilfe wir uns nach wie vor ein Bild von der sichtbaren Welt machen, allgemein und weltweit durchgesetzt. Inzwischen haben wir es so tief verinnerlicht, ja unserem Sehen förmlich einverleibt, dass wir das monofokale Perspektivbild als die nahtlose Entsprechung der natürlichen Wahrnehmung empfinden und ihm beträchtliche Verlässlichkeit (Wahrheit) zumessen.
Dass dieser Modus der optischen Wiedergabe der visuellen Wahrnehmung keineswegs natürlich und selbstverständlich ist, sondern nur eine kulturell bedingte Konstruktion, will ich an zwei Beispielen kurz erhellen. In einer seiner Abhandlungen über die Auswirkungen der modernen Massenmedien auf unsere Beziehungen zur sichtbaren Welt berichtet der kanadische Medienwissenschaftler Herbert Marshall McLuhan von einer denkwürdigen Reaktion der Zuschauer irgendwo in Afrika auf die Vorführung eines dokumentarischen Lehrfilms:
Unter den afrikanischen Zuschauern sprang bei der Projektion auf einmal Unruhe auf. Sie wirkten sehr aufgeregt. Wegen eines Huhns, das sie im Verlaufe des Films gesehen haben wollten. Niemand der weißen und mit dem Film vertrauten Vorführer hatte das Huhn je erblickt. Erst nach schier unaufhörlicher Überprüfung des Films vermochten sie es endlich zu entdecken. Tatsächlich flatterte in einer Einstellung am untern Rand des Bildausschnitts für einen winzigen Augenblick ein Huhn herum. Das Tier war der Aufmerksamkeit der in westlich geschulter Wahrnehmung befangenen Betrachter entgangen. Es hatte aber das besondere Interesse der Afrikaner provoziert. Ihr Regime der Aufmerksamkeit organisierte sich augenscheinlich nach völlig anderen Gesichtspunkten als der Blick sowohl der westlichen Filmemacher als auch der westlichen Betrachter.
Seit dem Aufbruch der Renaissance ist nach geläufiger Lesart der Geschichtswissenschaft die sicht- und erfahrbare Welt in den Fokus der kollektiven Aufmerksamkeit des europäischen Kulturkreises und seiner visuellen Wahrnehmung gerückt. Die Menschen wurden sich zugleich ihrer Individualität bewusst und demgemäß ihrer prinzipiellen Gleichheit vor dem Gesetz, das sie in ein als subjektiv bestimmtes Verhältnis zu ihrer Umwelt rückte. Der Mensch wird, wie die amerikanische Soziologin Liah Greenfeld schreibt, schließlich zum Baumeister seines Lebens.
Das Spektrum des Sichtbaren hat sich seit der Renaissance nicht nur enorm erweitert– vieles, was zuvor dem Wirken höherer Mächte oder geheimnisvoller, meist gefährlich empfundener Kräfte zugeschrieben wurde, erkannte man als Folgen natürlicher Ursachen.
Die Entdeckung der Fotografie hat die rasante Entwicklung beschleunigt und das Territorium des Sichtbaren um ganze, bis dahin unerforschte Kontinente erweitert. In welch‘ unvorstellbarem Umfang, demonstriert ein vom amerikanischen Kurator Marvin Heiferman2Marvin Heiferman. Photography Changes Everything. Edited by Marvin Heifermann, Foreword by Merry A. Foresta, aperture, Smithsonian Institution, New York, N.Y. 2012.herausgegebenes Buch mit dem bezeichnenden Titel Photography Changes Everything. Es ist das erstaunliche Ergebnis eines langjährigen Forschungsprojekts des Smithsonian Instituts mit dem frappierenden Nachweis, dass die im Titel erhobene Behauptung keine Übertreibung ist. Wissenschaftler und Praktiker der unterschiedlichsten Disziplinen, Natur- und Geisteswissenschaftler, Repräsentanten der Unterhaltungsindustrie, der Kultur und der Politik legen in dem Buch dar, wie umfassend sich ihr Fach unter dem Einfluss der Fotografie gewandelt hat. Von der Historiografie bis zur medizinischen Diagnose, von der Psychologie bis zur Soziologie, von der Medientheorie bis zu den Gewohnheiten, wie wir unsere eigene Geschichte konstruieren, bewahren und erzählen.
Diesem Buch entnehme ich auch mein zweites Beispiel. Es ist hauptsächlich deshalb so aufschlussreich, weil es zeigt, dass manche außer-westlichen Kulturen dieser beständigen Erweiterung des Feldes der Sichtbarkeit und namentlich gegenüber seiner grenzenlosen Verfügbarkeit mit unverhohlenem Widerstand begegnen. Davon berichtet die Anthropologin Haidy Geismar in dem Beitrag Photography Changes Who Can See Images of Us: „We take for granted, particularly in the context of museums and archives, that photographs are supposed to be seen. This is part of our own often-unexamined cultural perspective, which insists on visibility as one of the prime modes of acquiring knowledge (seeing is believing). […] Since its invention, photography has been in an uneasy relationship with cultural groups who have not only been subjected to the gaze of the photographer, but also to the distribution of images of themselves and their way of life, made without their consent.“3Haidy Geismar. „Photography Changes Who Can See Images Of Us“, in: Photography Changes Everything (wie Anm. 1), S. 73Im konkreten Fall betrifft das die Aborigines Australiens.
So wird in ihrem Dasein alles, was einem Menschen gehört hat oder von seiner Existenz noch zeugen würde, seine Besitztümer und die Bilder, auf denen er abgebildet ist, zerstört, wenn er stirbt. Nichts bezieht sich künftig auf die Verstorbenen, nichts soll an sie erinnern, schon gar kein Abbild. Jede Präsenz eines oder einer Verstobenen löst Ängste aus. Im Umgang mit Bildern hat sich in Australiens Archiven und Museen die Praxis eingebürgert, Publikationen, Ausstellungen, Websites oder Filme mit der Warnung an die Aborigines zu versehen, dass sie Bilder von mittlerweile Verstorbenen enthalten können. Damit sollen durch kulturelle Überlieferung eingeschliffene mögliche Verletzungen verhindert werden, die grenzenlose Sichtbarkeit bei ihnen zu bewirken vermag.
Nicht zufällig wirft diese Geschichte die Frage nach den Konsequenzen einer grenzenlosen Sichtbarkeit in den psychologischen Haushalten der Menschen moderner Zivilisationsgesellschaften auf. Allzu rasch blendet man aus, dass auch in diesen Gesellschaften nicht alles, was sichtbar ist und was in sichtbarer Gestalt vergegenwärtigt werden könnte, aus guten oder schlechten Gründen verbreitet wird. Ich will das düstere Kapitel der Kinderpornografie nur streifen. Bilder der Gräuel von Kriegen unterliegen in der Regel jedoch ebenfalls einer freiwillig-unfreiwilligen Zensur – wenn auch aus anderen Gründen.
Von den einen werden sie mit dem Argument abgewehrt, sie würden das Empfinden der Betrachter verletzen. Im Fernsehen werden sie deshalb nicht ausgestrahlt. Als ob es ihnen nicht darum ginge zu provozieren. «Einen Terror für das Auge», fordert demgegenüber der Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy. Von den anderen werden die Bilder des Grauens als weitere, nämlich visuelle Erniedrigung der betroffenen Menschen denunziert – als ob die Bilder die festgehaltenen Grausamkeiten verübt hätten und nicht Menschen dafür verantwortlich wären. Bilder sind weder schuldig noch unschuldig und als solche auch nicht zu etikettieren.
Wie unersprießlich, selbstgerecht und an der Sache vorbei der Diskurs im Rückblick auch anmutet – er zielt auf die häufig unbewussten Auswirkungen dessen, was die Bilder, genauer die fotografischen Bilder, mit uns anstellen. Womöglich ist jetzt der richtige Zeitpunkt dafür gekommen. Denn vieles deutet darauf hin, dass die Fotografie einem prinzipiellen Veränderungsprozess unterliegt, seit die digitale Technik die analoge ersetzt hat. Diese hat zwar in die äußere Gestalt der Bilder – bisher wenigstens – nicht in der Konsequenz eingegriffen wie das Aufkommen der Perspektive in den Kosmos der Bilder Jahrhunderte vorher, aber sie hat den Umgang mit fotografischen Bildern grundsätzlich verändert.
Von den fünf menschlichen Sinnen ist der visuelle nicht nur der ausgefeilteste, sondern auch der am meisten beanspruchte. Die außergewöhnliche Ausbildung des Anschauungssinnes ist umso erstaunlicher, da wir quasi blind auf die Welt gelangen. Im Gegensatz zu den übrigen Sinnen wird der Sehsinn in der dunklen Höhle des Mutterleibs weder gefordert noch ausgebildet. Allein die physiologischen Voraussetzungen sind bei der Geburt vorhanden. Demgemäß ist der visuelle Sinn am stärksten von allen Sinnen kulturellen Einflüssen ausgesetzt.
Spätestens mit der Heraufkunft der Camera Obscura begann die systematische Privilegierung des Auges. Nicht von ungefähr fand die Camera Obscura in der Renaissance ihre früheste Anwendung. In der dunklen Kammer sind es allein die Augen, die beansprucht werden. Die übrigen vier Sinne werden blockiert.
Wir bedürfen also der Anleitung, um Sehen zu lernen. Fühlen, Schmecken, Hören, Riechen sind am Anfang unseres Daseins stärker ausgeprägt als der Sehsinn. Bei den meisten Menschen wird es die Mutter sein, die als frühester Guide ins Reich des Sichtbaren fungiert. Dass wir die Welt zunächst nicht in der Weise anschauen, wie sie sich in den geläufigen, massenmedial verbreiteten Bildern spiegelt, illustrieren die ersten tastenden Versuche, sie optisch wiederzugeben.
Kinderzeichnungen sind frei von Versuchen, den Kunstgriff der Perspektive anzuwenden. Sie organisieren sich nach der Wichtigkeit dessen, was wir in jungen Jahren wahrnehmen. Zudem spielen Ausdruckswerte hier eine größere Rolle als in Bildern, die auf mathematischer Basis ihre Sicht darbieten. Deshalb erschienen sie auch in einem neuen Licht, nachdem in der Kunst die Ausdruckswerte an ästhetischer Bedeutung gewonnen haben. Inzwischen werden sie als eigenständige kreative Leistungen eingestuft. Leicht zu entschlüsseln sind sie nicht. Ein geschulter Blick mit speziellem Wissen um die besondere Verfassung des kindlichen Lebens ist notwendig.
Fotografische Bilder sind wahrscheinlich die ersten Abbilder des Sichtbaren, denen wir in den modernen Zivilisationsgesellschaften nach der Frühkindheit begegnen. Waren es einst neben dem Familienalbum die Zeitungen mit ihren Bildern, wurden diese ab Mitte des vergangenen Jahrhunderts vom Fernsehen und anfangs des 21. vom Internet abgelöst. Daher ist es naheliegend, die technischen und elektronischen Bilder als die Werkzeuge zu markieren, die es uns ermöglichen, selbsttätig die symbolischen Beziehungen zur sicht- und erfahrbaren Realität aufzunehmen und eine bewusste Einstellung ihr gegenüber zu entwickeln.
In anderen Worten: Unmerklich lenken die fotografischen Bilder unsere visuelle Wahrnehmung des Sichtbaren und lagern simultan das Programm ihres Konstruktionssystems in unserer Optik ab.
Das folgenreichste Ergebnis dieser Filterung ist eine schleichende Theatralisierung der sichtbaren Wirklichkeit. Das Terrain des Sichtbaren erscheint im fotografischen Bild als Ereignisfeld. Das Reale verwandelt sich potenziell in eine Aufführung. In eine Performance, die im fotografischen Bild zwar wie erfroren anmutet, die sich aber je nach Anlage des Bildes in unserem Kopf, unserer Imagination weiter spinnt.
In dem Effekt dieser unterschwelligen Theatralisierung verbirgt sich offenbar die Erbschaft des südlichen Modus der europäischen Bildtradition. In ihrer äußerst anregenden Untersuchung „Kunst als Beschreibung“ mit dem Untertitel „Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts“ interpretiert die amerikanische Kunsthistorikerin Svetlana Alpers4Svetlana Alpers. Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, mit einem Vorwort von Wolfgang Kemp, Köln, 1985, S. 34die Bilder der italienischen Renaissance als eine „Nachahmung bedeutungsvoller menschlicher Handlungen“. Die holländischen Bilder deklariert sie dagegen als bloße „Schilderung und Beschreibung der sichtbaren Welt“.
In der Tat haben die repräsentativen Gemälde des Südens häufig den Charakter von Handlungsdirektiven. Ein rhetorisches Moment ist ihnen eingeschrieben. Die Bilder haben narrativen Charakter. Wie ein Redner das Gesagte mit Gesten des Körpers unterstreicht, so vermitteln die Bildfiguren den Gegenstand der Bilderzählung gestisch. Namentlich trifft dies auf die repräsentativen Wand- und Tafelbilder an öffentlichen Orten wie den Empfangsräumen der Höfe, der Rathäuser und der Kirchen zu.
Berücksichtigt man den chronologischen Abstand, der uns von den Anfängen der Neuzeit aufgrund der politischen, sozialen und kulturellen Veränderungen scheidet, ist dennoch nicht von der Hand zu weisen, dass die Fotografie die Tendenz der Theatralisierung des Realen, das in den Bildern der Renaissance wirksam ist, vorangetrieben und zugespitzt hat. Kommt noch hinzu, dass Theatralisierung stets mit Fiktionalisierung einhergeht. Mit der Theatralisierung, einer Verdichtung des Sichtbaren, ist eine Überschreitung des Realen verbunden.
Am sinnfälligsten wird dieses Merkmal in den Bildern der Momentfotografie. Zwar soll in ihnen ein symptomatischer Augenblick im Kontinuum des sichtbaren Geschehens festgehalten werden – der berühmte „moment décisif“ Henri Cartier-Bressons. Doch eben nicht, wie meist behauptet, fixiert, sondern als ein bestimmter Augenblick im Vollzug der Zeit, ein Schnitt in die Zeit zwischen Augenblicken davor und Augenblicken danach. Diese Bilder vergegenwärtigen gewissermaßen ein ikonisches Szenario. Die Bilder Cartier-Bressons mit ihrem komplexen Gefüge und die Bewegung antizipierenden des legendären Fotoreporters und Modefotografen Martin Munkacsi liefern schlagende Beispiele.
Die fotografischen Techniken lassen das Dasein als Drama erscheinen. Als Bühnenstück mit an- und abschwellenden Spannungselementen. Die Welt gerät zur Kulisse. Daraus hat die Politik ihre Folgerungen gezogen, und ein Großteil der politischen Aktivitäten im Medienzeitalter begnügt sich im Sinne dieser Einsicht mit symbolischen Handlungen. Die kinematischen Medien Film und Fernsehen haben den Trend nur verstärkt. Das Primat gebührt der Malerei, und vor dem Hintergrund der Moderne segelte in ihrem Kielwasser die Fotografie. Lincoln, Napoleon III. und Queen Victoria sind die Pioniere auf dem Gebiet der Symbolpolitik. Sie haben die Inszenierung auch nicht allein den Fotografen überlassen, sondern die fotografischen Möglichkeiten selber intelligent genutzt, um sich in Szene zu setzen.
Was die Fotografie mit uns anstellt und schon angestellt hat – das erwähnte Buch von Marvin Heiferman gibt reichlich Stoff, um unter dem Aspekt dieser Frage ganze Bibliotheken mit Promotionen zu füllen. Ich will mich zum Schluss lediglich auf zwei Folgen beschränken, die beide unter der Schirmherrschaft des Ästhetischen stehen. Es sind Auswirkungen auf den menschlichen Körper und auf die Kunst.
Wer nur flüchtig die fotografische Geschichte durchblättert und sich auf die Bilder des menschlichen Körpers kapriziert, wird die Metamorphose registrieren, welche dieser in den vergangenen 175 Jahren durchlief. Der Wandel erstreckt sich nicht bloß auf die äußere Hülle, auf die Kleidung – er ergreift getreu der These René Königs den gesamten Körper, seine äußere Erscheinung und seine physische Beschaffenheit.
Am signifikantesten vollzog sich die Metamorphose am und im weiblichen Körper. Aus kompakten, breithüftigen Frauen wurden in den Jahren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges binnen weniger Dekaden grazile, langbeinige Wesen. Die Fotografie ist zwar nicht der Motor des frappierenden Wandels. Doch sie ist der verführerische Herold seiner Botschaft.
Einerseits transportieren die fotografischen Bilder die unwiderstehliche Macht der Mode. Andererseits stiften sie mit ihrer subtilen Rhetorik zur Nachahmung an. Nicht nur gab und gibt die Modefotografie dem Körper der modernen Frau seine visuelle Gestalt und feiert ihre Modelle als nacheifernswerte Vorbilder – auch alle anderen Gattungen der Fotografie mitsamt Film, Fernsehen und Internet verstärkten ihre Suggestivität.
Mit dem Wechsel von der analogen zur digitalen Wiedergabetechnik hat sich die Suggestivkraft der entsprechenden Bilder erheblich gesteigert. Zunehmend werden die ästhetischen Standards der fotografischen Bilder mit Blick auf den menschlichen Körper als Aufforderungen zum praktischen Handeln betrachtet. Konkret: zur Aufforderung, den nächsten Schönheitschirurgen anzurufen.
Die faltenlosen Einheitsgesichter der Modelle auf den Covern der illustrierten Zeitschriften – beileibe nicht nur der Modeblätter – und den Reklamen gelten als Blaupausen des kollektiven Schönheitsbildes. Mithilfe der kosmetischen Chirurgie werden die Menschen, ein gewisser Wohlstand vorausgesetzt, zu Pygmalions. Doch im Unterschied zu der mythologischen Figur modellieren sie den eigenen Körper. Sie legen sich Wunschgesichter aus dem Katalog zu und lassen sich Wunschkörper zurechtschneidern. Am Ende entpuppt sich der Mensch als Kopie seiner Kopie, als lebende 3D-Fotografie.
Nennenswert sind die Folgen, die das Medium der Fotografie auf die Wahrnehmung der Kunst und ihren Charakter gezeitigt hat. Damit meine ich nicht, dass die fotografischen Bilder sich gegen den hinhaltenden Widerstand der Künstler das Territorium der Kunst erobert haben. Entscheidender ist, dass sie den Blick auf die Werke der Kunst, ungeachtet ihrer kulturellen Vielfalt und Unterschiedlichkeit, ihrer Herkunft und ihres Alters, nahezu vollständig ihrer besonderen Optik unterworfen haben. Es sind die fotografischen Bilder, die Gemälde der Renaissance, mittelalterliche Skulpturen, frühchristliche Ikonen, afrikanische Masken, chinesische Rollbilder, javanische Fetische und ägyptische Sarkophage, unvergleichliche Manifestationen der menschlichen Kultur, auf die Ebene des Vergleichbaren gebracht haben.
Walter Benjamins naive Proklamation, die Fotografie eröffne allen interessierten Menschen den Zugang zu den Werken der Kunst, wo immer sie sich auch befänden, hat André Malraux mit seinem imponierenden „Musée imaginaire“, einem Museum, das faktisch nur in fotografischen Bildern existiert, in die Tat umgesetzt.
Benjamin wie Malraux unterstellen sowohl einen völlig a-historischen Kunstbegriff als auch einen, dem die materielle Beschaffenheit der individuellen Kunstwerke gleichgültig ist: die individuelle Ausstrahlung, die leisen Appelle an die Sinne über den Sehsinn hinaus, ihr Eigenwillen und ihre Körperlichkeit. „Die Reproduktion“, dekretiert Malraux im ersten Teil seines Buches „Stimmen der Stille“ mit der Überschrift „Das imaginäre Museum“: „Die Reproduktion trägt allmählich dazu bei, dieses Gespräch“ – damit meinte er ein Gespräch der Kunst nach den überlieferten ästhetischen Kriterien [K.H.] – „in eine andere Richtung zu lenken; sie legt eine neue Wertordnung nahe, die sie schließlich gebieterisch erzwingt.“5André Malraux. Stimmen der Stille, Stuttgart/Hamburg 1956, S. 14.
Das Ziel der Richtung hat Malraux in seinen eloquenten Ausführungen natürlich nicht voraussehen können. Vor allem den beklagenswerten Verfall der Sensibilität für die physischen und psychischen Qualitäten der Malerei, für die haptischen und schillernden Qualitäten der Farben und ihrer spezifischen Physiognomien. Obendrein tauchen die fotografischen Reproduktionen Gemälde in ein völlig anders aufgebautes Farbsystem. Damit ist das Tor in den Sumpf der Beliebigkeit des Kunstbegriffs aufgestoßen worden. Es ist der Verlust der Empfänglichkeiten für ihre spezifische sinnliche Ausstrahlung über das rein Sichtbare hinaus und bedeutet damit eine ungeheure Einschränkung unserer Fähigkeit, differenziert zu sehen (und zu empfinden).
Eine solche Haltung wird nicht grundlos als „kulinarische“ diffamiert. Ersetzt hat sie eine merkantile. Dieser ist der Preis, der kommerzielle Wert eines Kunstwerkes ist Richtschnur des „ästhetischen“ Urteils. Gegenwärtig läuft ein Drittel der Verkäufe von Kunstwerken im Hochpreis-Sektor über das Internet. Tendenz steigend. Das Internet erübrigt die unmittelbare Anschauung. Fotografische Reproduktionen auf dem Bildschirm mit Preissignalen befördern statt ihrer neben dem Namen des Künstlers oder der Künstlerin die Entscheidung zum Erwerb.
Im Gegenzug müssen wir uns in den meisten Museen der Welt mit verglasten Gemälden begnügen. Durch die Verglasung erhalten die Gemälde, beabsichtigt oder nicht, eine gewisse Ähnlichkeit mit ihren fotografischen Reproduktionen. Mit der Gratifikation indes, dass wir uns im Spiegel der Verglasung selber sehen können. Passendes Motiv für ein „Selfie“ neben Venus und Adonis. Immerhin.
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um das Manuskript des (leicht gekürzten) Vortrags, den Klaus Honnef, Publizist, Kurator und Prof. em. für Theorie der Fotografie, beim cahiers- Symposium Vom Nutzen der Bilder im Mai 2014 in Dortmund gehalten hat.
- 1Aaron Scharf, Art and Photography, Harmondsworth 1968
- 2Marvin Heiferman. Photography Changes Everything. Edited by Marvin Heifermann, Foreword by Merry A. Foresta, aperture, Smithsonian Institution, New York, N.Y. 2012.
- 3Haidy Geismar. „Photography Changes Who Can See Images Of Us“, in: Photography Changes Everything (wie Anm. 1), S. 73
- 4Svetlana Alpers. Kunst als Beschreibung. Holländische Malerei des 17. Jahrhunderts, mit einem Vorwort von Wolfgang Kemp, Köln, 1985, S. 34
- 5André Malraux. Stimmen der Stille, Stuttgart/Hamburg 1956, S. 14.