Elmar Mauch, Bildforscher und Künstler, gründete 2011 das Institut für künstlerische Bildforschung, dass sich die Analyse und Sichtbarmachung von Wirkmechanismen fotografischer Bilder zur Aufgabe gemacht hat. Grundlage des Instituts ist eine umfangreiche Sammlung von Alltagsfotografien. Neben lebensphilosophischen Themen stehen Fragen zu Bildrhetorik und visueller Poesie im Zentrum seiner Arbeit. Andreas Till sprach mit Mauch über dessen Umgang mit Bildern und die Forderung, Bilder als Material zu begreifen sowie über die Zusammenhänge von visueller und geschriebener Sprache.
AT
Fotografische Arbeiten werden immer wieder als Visual Haiku bezeichnet bzw. mit Haiku verglichen (A.d.R.: sehr kurze und offene, traditionelle japanische Gedichtform mit hohem Gegenwartsbezug und konkret beschreibendem Charakter, s.a. Essay ‚Visual Haiku‘, Andreas Till, cahiers #1). Ich war immer irritiert durch diesen Begriff und begann mich deshalb dafür zu interessieren, was denn ein visuelles Haiku sein kann. Nach der Recherche zur Bedeutung und Entstehungsgeschichte des Haiku begann ich, mir die Bücher von Masao Yamamoto näher anzuschauen. Was mich im Bezug auf seine Bücher interessierte, war die Frage, wie sich der Haiku-Gedanke in der Ästhetik und Zusammenstellung seiner Bilder widerspiegelt und inwieweit das Medium Buch diesen Gedanken unterstützt.
EM
Mir ist der Begriff des visuellen Haiku vollkommen neu. Die schriftliche Form des Haiku kenne ich, und finde sie als Phänomen durchaus interessant. Denn es ist eine kleine ästhetische Einheit, die, ausgehend von klaren Strukturen, ein Gefühl zu erzeugen versucht. Von diesem Punkt her finde ich das sehr spannend. Denn es geht um eine Art von Wirkungserzeugung. Bei meinen Bildforschungsarbeiten und bei der Herstellung meiner Bücher stellt sich diese Frage nach der Wirkung ständig. Ich frage mich aber trotzdem, ist der Begriff Visual Haiku mehr als nur ein Schlagwort?
AT
Der Haiku-Stempel wird meiner Meinung nach tendenziell fotografisch-künstlerischen Arbeiten aufgedrückt, die ein gewisses Sinnieren nach sich ziehen, etwas Tagträumerisches, die Seele-baumeln-lassen-betreffendes.
EM
Da nimmt man sich so einen Begriff wie Visual Haiku, um die Arbeit aufzuwerten, oder?
AT
Das ist eben genau der Punkt. Welche Kriterien gibt es, wenn man überhaupt Kriterien finden kann? Woran will man diese festmachen? Wann hört dieser Begriff auf nur ein Stempel zu sein und wann ist es möglicherweise gerechtfertigt, eine Arbeit damit in Verbindung zu bringen, eine Arbeit so zu beschreiben?
EM
Aber sind wir da nicht bei einem Grundproblem von Gestaltung und Kunst? Und zwar der Frage, ob und wie Methoden aus einem Medium in ein anderes einfach übertragen werden können? Denn das klassische Haiku setzt geschriebene Sprache ein, und das andere Haiku ist rein visueller Natur. Kann man diese beiden Methoden also vergleichen? Ich stelle diese Frage, da es mich auch selbst interessiert.
AT
Wenn es um Erzählmethoden im Fotobuch geht, kommt man sehr schnell an denselben Punkt. Es gibt keine niedergeschriebene Grammatik oder Rhetorik für visuelles Material, wie es sie zum Beispiel in der Literatur gibt. Dort gibt es ja bestimmte Stilmittel, die auch durchaus dazu verleiten, sie auf visuelles Material zu übertragen und das wurde in der Vergangenheit ja durchaus schon getan, z. B. von Jean-Louis Swiners im Jahre 1965.
EM
Richtig, aber ein gutes Bild ist generell vieldeutig. Die eindeutigen Bilder interessieren mich selten. Ich mache ja selber kleine Bilderhefte. Und wenn ich darüber nachdenke, gibt es da natürlich schon ein paar Parallelen zu den Haikus. Da gibt es zehn Bilder, ein kleines Heft, eine in sich geschlossene Einheit oder Geschichte, wie immer man es nennen mag, die einen Nachklang erzeugt. Ich finde die Thematik, wie man mit Bildern etwas vermitteln kann, ohne dass es in einer Beliebigkeit hängen bleibt, immer wieder interessant. In letzter Zeit sehe ich oft Bildersammlungen, innerhalb derer auch Unterschiedliches aufeinandertrifft und das visuell durchaus spannend ist. Letztlich bleibt aber nichts übrig, außer, dass ich gut unterhalten worden bin. Das können allerdings viele! Für mich muss eine Arbeit mehr auslösen. Sie muss einen Nachklang haben. Deshalb treiben mich so Dinge um wie: Kann ich eine Frage stellen über das, was da gezeigt wird einerseits – und über Bild und Wahrnehmung andererseits? Das finde ich wichtig! Mit Bildern über Bilder zu arbeiten, über das Denken zu arbeiten, und Wissen in Frage zu stellen.
[Elmar kramt in einer Papp-Box, die gefüllt ist mit Fotobüchern verschiedenster Formate und holt anschließend fünf sehr kleine Bilderheftchen heraus, die er vor mir auf den Tisch legt.]
Dies sind einige von meinen Bilderheften, anhand derer du etwas von meiner Arbeitsweise sehen kannst. Bei jedem dieser Hefte verfolge ich einen anderen Gedanken und finde dann die entsprechende Form dazu. Diese thematisch unterschiedlichen Bilderhefte stelle ich in Handarbeit her. Jedes von ihnen hat ein anderes Format, eine andere Seitenanzahl – es sind in gewisser Weise Unikate.
AT
Dieses Bild hier, in deinem Bilderheft Feld, scheint etwas verpixelt zu sein. Wie kommt das zustande?
EM
Das ist ein Ausschnitt aus einem gefundenen Bild aus dem 1. Weltkrieg. Was meinst du mit verpixelt?
AT
Naja, da sind so Treppchen drin.
EM
Also, das soll zumindest kein Stilelement sein. Das könnte sogar ein Fehldruck sein. Wenn ich mir das jetzt so anschaue, ist es mir auch nicht so wichtig. Also es stört mich nicht auf den ersten Augenblick. Allerdings stört es mich dann schon, wenn jemand genau die Frage stellt, die du gerade gestellt hast und insofern müsste es schon anders sein, weil das nicht die Frage ist, die ich stellen will.
AT
Es könnte ja genauso gut sein, dass diese Ästhetik Teil deines Konzepts ist …
EM
Aber genau das ist dann der Punkt, an dem etwas schief läuft, weil du dadurch auf eine falsche Fährte kommst. Ich möchte nicht, dass du über eine technische Unzulänglichkeit nachdenkst. Insofern muss ich das ändern. Denn ich habe schon eine gewisse Vorstellung, worüber Betrachter nachdenken sollen und das gehört definitiv nicht dazu.
AT
Woher stammen denn alle diese Bilder?
EM
Die Grundlage dieser Bilderhefte sind Bilder aus meiner sehr umfangreichen Sammlung von Alltagsfotografien. Diese verwaisten Bilder versuche ich emotional wieder zugänglich zu machen und die Betrachter mit Geschichten und Fragen zu konfrontieren. Es sind inzwischen mehr als 100.000 Bilder, und es kommen permanent neue dazu. Hierbei sammle ich all die Fotos, die andere nicht sammeln. Denn irgendwann wird es diese Fotos mal nicht mehr geben. Ich sammle zunächst einmal, um zu bewahren: Amateurknipser-Fotos, Familienfotos und alles, was mir parallel dazu in den Blick kommt und mir interessant und bewahrenswert erscheint. Mittlerweile sind auf diesem Wege viele Bilder zusammengekommen; fast 10.000 sind schon gescannt und diese sind in annähernd 600 Kategorien alphabetisch sortiert, von „Absurdes“ bis „Zuneigung“.
Inzwischen habe ich das Institut für künstlerische Bildforschung gegründet, und im Moment ist dieses Archiv eine Art Steinbruch für meine Arbeit. Das bedeutet, dass ich dieses Material sichte, es hinterfrage und herauszufinden versuche, welche Fragen und welche Potenziale darin enthalten sind. Daraus entwickle ich dann Bildarbeiten; seien es Wandarbeiten, Künstlerbücher, kleine Animationen oder was auch immer.
Da ist zum Beispiel die Kategorie „Das kleine Deutschlandalbum“. Es enthält Fotos aus zahlreichen unterschiedlichen Quellen. Diese Fotos zeigen Menschen auf Urlaubsfahrt durch Deutschland. Dabei haben sie zur Selbstvergewisserung fotografiert. Da gibt es in meiner Sammlung viele verschiedene Ansichten vom selben Ort zu unterschiedlichen Zeiten. Das ist zum einen kulturhistorisch interessant, noch spannender finde ich jedoch, diese unterschiedlichen Blicke zusammenzufassen, gegeneinander zu stellen, um dann irgendwann ein Buch in den Händen zu halten, dessen Autor ich letztlich in Vertretung all dieser Anderen bin. Ein Buch, das sehr viele Fotos bzw. Eindrücke enthält, Blicke von Leuten, die nichts mehr dazu sagen können. Durch mein Eingreifen wird aus diesen visuellen Zeugnissen, die aus unterschiedlichsten Quellen stammen, ein Gemeinsames erzeugt. Ich bin letztlich derjenige, der das choreografiert und zum Sprechen bringt.
AT
Ich nehme an, dass diese Kategorien zumindest zu einem gewissen Grad offen sind?!
EM
Die Kategorien sind relativ offen, aber es gibt natürlich auch Eingrenzungen. Zum Beispiel gibt es die Kategorie „Krieg“. Diese enthält vorwiegend Bilder aus dem ersten Weltkrieg. Krieg ist also das Oberthema und dann gibt es dreißig Unterthemen, seien es Schützengrabenbilder oder Zerstörung in verschiedenster Form, sowie Landschaften, Häuser, Städte, Leichen. Daraus ist ein Buch entstanden. Es heißt Es ist alles so nah und wird noch in diesem Jahr im Verlag der Buchhandlung Walther König erscheinen.
[Ich schaue mir Es ist alles so nah an.]
AT
Obwohl ich sehe, wie du vorgehst und versuche, das Buch analytisch zu betrachten, kann ich mich der Thematik und der Emotionalität nicht entziehen. Das Buch fasziniert mich. Insofern scheint dein Konzept aufzugehen.
EM
Zum Titel Es ist alles so nah stand für eine gewisse Zeit auch ein Untertitel im Raum. Dieser lautete Die erhabene Ausschaltung des Großhirns. Das ist ein Zitat, das ich in dem Buch Der Krieg des kleinen Mannes von Wolfram Wette gefunden habe. Die Geschichtsschreibung von unten, eine Thematik, die es in den Geisteswissenschaften noch gar nicht so lange gibt, interessiert mich generell. Es interessiert mich, die Dinge von einer ideologiefreien Basis aus zu betrachten, also eben genau so, wie ich auch meine Bilder sammle. Diese Bildnachlässe sind, in den Augen vieler, ja im Prinzip nichts wert. Das sind ja nur irgendwelche Familienfotos, irgendwelche Bilderkisten von irgendwelchen Leuten, mit denen wir nichts zu tun haben. Wofür dieses Buch sicher auch steht, ist mein Umgang mit dem Bild. Wenn Fotografen Bilder machen, geht es ihnen meist darum, diese 1:1 zu zeigen. Nach meiner Überzeugung muss man Bilder aber auch manchmal überwinden. Und wenn wir jetzt von diesem Buch ausgehen: jedes dieser Bilder hat vielleicht für sich einen bestimmten Wert, aber der ursprüngliche Wert war ein emotionaler. Er richtete sich an einen ganz bestimmten Personenkreis. Und diesen Personenkreis gibt es so nicht mehr. Das heißt, es sind nahezu kontextlose Bilder.
AT
Also ganz frei von einem emotionalen Kontext …
EM
Richtig, und ich frage mich, wie ich ihnen wieder eine emotionale Funktion zurückgeben kann. Das ist das, was mich interessiert. Dass den Bildern wieder eine Funktion zukommt, und zwar nicht nur eine in sich beschränkte Funktion als Zeitzeugnis. Ich nehme mir die Freiheit, mit diesen Bildern so umzugehen, wie ich es für richtig halte. Ich greife in die Bilder ein, ich erweitere und ergänze sie. Es ist ein ganz und gar anti-archivarischer Umgang mit den Bildern. Da existieren zunächst keine Grenzen. Beim Eingriff und Umgang mit Bildern geht es mir immer um eine Wirkung in Funktion auf ein Gesamtes. Das Bild hat demnach eine dienende Funktion. Dabei geht es aber nicht um Effekt! Effekt ist so ein Begriff, bei dem sich mir die Fußnägel aufrollen. Konkreter: bei Effekthascherei im Zusammenhang mit Bildkonzepten.
AT
Würdest du sagen, dass Bildproduzenten, die sich gleichzeitig als Bildorganisator versuchen, auf eine bestimmte Art und Weise eingeschränkt sind? Würdest du zum Beispiel für dich sagen, dass du in deinem Auswahlprozess eingeschränkt wärst, wenn du die Bilder für deine Projekte selbst machen würdest?
EM
Nein, ich für mich selbst nicht. Generell würde ich aber schon sagen, dass das ein Problem sein kann. Denn das Fotografieren und der spätere funktionale Umgang mit den Bildern verlangen unterschiedliche Umgangsweisen und Methoden. Es geht um ein stetiges Wechseln zwischen Empathie und Distanz. Abstand zu den eigenen Bildern einnehmen zu können, muss mühsam erlernt werden. Oft steht man sich dabei selbst im Weg. Man muss lernen, irgendwann souverän damit umgehen zu können und der Funktion der Serie, der Geschichte, des Buches alles hintanzustellen. Kill your Darlings ist das Stichwort. Das Foto als Material zu begreifen, ist Schwierigkeit und Chance zugleich!
AT
Welchen Raum lässt du dem Zufall bei der Entstehung eines Buches?
EM
Zufall ist in diesen Büchern gar nichts. Also nichts, definitiv nichts! Form, Abfolge und Grunderzählung des Buches müssen in sich stimmig sein. Nur so erreiche ich, dass die Betrachter beim Sehen der Bildabfolgen eigene Assoziationen bilden und das Gesehene mit ihrer eigenen Geschichte, ihrem eigenen Erfahrungshorizont, gedanklich verweben.
Aber im Vorfeld spielen Zufall und Offenheit natürlich eine große Rolle. Zufall ist, dass ich einen Nachlass oder eine Kiste durchschaue, und da liegen zufälligerweise zwei Bilder nebeneinander, die mich inspirieren. Oder beim Betrachten eines Bildes lasse ich die Gedanken schweifen, erinnere mich an ein anderes Bild, und diese zwei Bilder stehen nun deshalb zusammen, weil sie zufälligerweise oder auch nicht zufälligerweise zum selben Zeitpunkt in mein Blickfeld oder in meine Gedanken traten. Zufall zuzulassen halte ich für sehr wichtig, denn nur durch Offenheit kann ich zu neuen Erkenntnissen kommen. Aber im Produkt selbst darf für meine Verhältnisse kein Zufall mehr sein, weil auch im fertigen Buch selbst noch hunderte Variablen sind.
Ein gutes Bild funktioniert für mich auf verschiedenen Ebenen. Das heißt, damit dieses Buch funktioniert, muss es für dich als Betrachter in jedem dieser Bilder oder auf jeder dieser Doppelseiten eine Möglichkeit geben, die dich produktiv weiterführt. Du machst aber dennoch deine eigene Geschichte aus diesem Buch, beziehst es auf dein Leben und deine Erfahrung. Wenn du im Theater plötzlich darüber nachdenkst, dass du dir mal wieder eine neue Hose kaufen könntest, oder einer der Schauspieler einen unglaublich schönen Samtstoff auf der Bühne trägt, dann ist das Stück für dich, glaube ich, gescheitert. Das, was die Regie wollte, funktioniert dann nicht. Im Idealfall ist es eben wirklich so, dass es hier zumindest irgendeinen roten Faden gibt, der vielleicht mit Unterbrechungen, aber insgesamt noch erkennbar ist. Es kann ja durchaus auch sein, dass man vor- und zurückblättert und dann feststellt: „Jetzt versteh ich das!“ Zudem finde ich es wichtig, dass in Büchern Irritationsmomente enthalten sind. Bei Brecht gibt es ja diese Verfremdungsmomente, die dich aus dem Stück herauskatapultieren, so dass du eine Distanz zu dem Stück findest und anders drüber nachdenkst.
Dabei gibt es natürlich eine Hürde! Wenn du nicht gewohnt bist, Geschichten aus Bildern herauszulesen, dann hast du ein Problem. Jemand, der nie Comics gelesen hat, kaum Filme gesehen und sich wenig mit bildender Kunst auseinandergesetzt hat, für den wird es schwierig. Es setzt durchaus ein gewisses Bildwissen oder eine Bilderfahrung voraus, also eine Geübtheit im Umgang mit Bildern, um in eine Tiefe einzudringen.
Das Gespräch fand in Dortmund bei Elmar Mauch zu Kaffee mit Kardamom statt. Es ist Teil einer umfangreichen Interview-Reihe von Andreas Till, die sich mit den Themen Bildauswahl und Sequenzierung im Fotobuch auseinandersetzt.